In „You shook me all night long“ bei den Barfestspielen lassen Christian Klischat und Katharina Hintzen in dem Programm „die Sau raus“.
Zwischen halb acht und acht Uhr abends füllt sich die Bar der Darmstädter Kammerspiele. Kurz vor acht kommt ein Typ von Gast, den man im Theater normalerweise nicht sieht; schwarze Rockerkluft, lange Haare, Fünftagebart und abwesender Gesichtsausdruck. Breit klinkt er sich in die Bar ein, zieht ungeniert einen dubiosen Glimmstengel aus der Tasche und beginnt genüsslich zu rauchen – was hier nicht erlaubt ist! Spätestens in diesem Augenblick ist auch dem letzten Besucher klar, dass es sich hier nicht um einen gesellschaftlichen „Irrläufer“ handelt, der einfach die Adresse verwechselt hat, sondern um einen Schauspieler, und zwar Christian Klischat selbst. Diese Rolle ist ihm sozusagen auf den Leib geschrieben, da er in seinen jungen Jahren selbst in einer Rockband gespielt hat und sich jetzt nur zurückzubeamen braucht, um sich wieder zurechtzufinden. Als das Licht über der Bar erlischt, schlendert noch eine junge Bedienung in die Bar, die jeder halbwegs seriöse Gastronom ob ihres Aufzugs hochkantig rauswerfen würde: Katharina Hintzen trägt schwarze Netzstrümpfe mit großen Löchern, rote Stiefel, kurze Jeans, die schon bessere Tage gesehen haben, und ein etwas zerlumptes Leopardenjäckchen. Die Haare sind zu einer Art Irokesenfrisur hochgesteckt. Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, die brennende Zigarette im Mundwinkel, bringt sie dem einsamen Rocker einen Drink, und der beginnt vor sich hin zu schwadronieren über eine durchgesoffene Nacht, einen Filmriss und Frauen, mit denen er angeblich mitgegangen ist. Das wahrhaft trostlose Ambiente einer drittklassigen „Absacker“-Bar mit der typischen Klientel aus Trinkern, Rockern und Junkies öffnet sich kurzfristig dem Publikum.
Nach den Selbstgesprächen über die letzte Nacht – Texten von Arthur Schnitzler entnommen – und die düsteren Perspektiven für den Tag beginnt Christian Klischat zu singen und weckt Erinnerungen an die Ära des Rock´n Roll vor dreißig, vierzig Jahren. Auch die blasierte Bardame erwacht jetzt aus ihrer vermeintlichen Lethargie und macht dem einsamen Trinker Beine, endlich was für die Unterhaltung zu tun. Er muss die Hosen aus- und einen roten Rock anziehen. Der einzige dramaturgische Zweck dieser Aktion scheint darin zu bestehen, etwas Unerwartetes, „Schräges“zu tun. Jetzt gehen die beiden aus sich heraus und machen dem Untertitel „Sex, Drugs and Rock´n Roll“ alle Ehre. Nicht nur untereinander diskutieren sie in derben Worten vor allem die ersten beiden Begriffe und deren Spielarten, sondern gehen damit auch auf das Publikum zu und fragen schon mal direkt einzelne Gäste, ob sie schon einmal von sexuellen Begierden gepackt worden seien oder was sie sagen würden, wenn sie keine Lust auf Sex hätten. Natürlich lässt sich kein Besucher auf diese Diskussion ein, und das wird wohl auch gar nicht erwartet, würde es doch schnell den Programmablauf durcheinander bringen.
Nach der Parforce-Jagd nach den sexuellen Gelüsten des Publikums ziehen sich die beiden wieder in die Bar zurück, streiten sich, singen, führen Selbstgespräche und trinken. Auch für das Publikum hält von Katharina Hintzen eine Runde Schnaps bereit, die sich überraschenderweise nicht als „Theaterschnaps“, sondern als echt erweist. Christian Klischat entflieht der Enge der Bar und der anstrengenden Bedienung, gesellt sich zu dem Live-Musiker (David Kirchner an der Gitarre) und trägt von einem kleinen Podest abgefahren Songs von Rockmusikern wie Curt Cobain oder Sonette von Shakespeare vor. Der Eindruck einer Drogenparty mit abgedrehten Typen verfestigt sich immer mehr, und Katharina Hintzen trägt von der Bar ihren gesanglichen Teil dazu bei. Das Ganze klingt nach einer knappen Stunde mit einem fast schwermütigen Lied über Abschied und Bleiben aus, das erst Christian Klischat und dann, nach dessen Abgang, Katharina mit desillusioniertem aber dennoch sehnsuchtsvollem Unterton intonieren. Dann geht auch sie. Ende.
Ein Liederabend der ganz anderen Art, für Leute, die den Rock´n Roll und seine Begleiterscheinungen noch aus erster Hand und großer Nähe erlebt haben. Jüngere Besucher amüsieren sich, ältere versinken auch ein wenig in Nostalgie und Wehmut über das Verstreichen der Zeit. Zwei gute Sänger mit dem richtigen Gespür für die Grundstimmung dieser vergangenen Epoche lassen die Zeit schneller vergehen als man denkt.
Frank Raudszus
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