Das Wiener „Burgtheater“ spielt Maxim Gorkis „Wassa Schelesnowa“ in einer ungewohnten Bühnenkonstruktion.
Das Bühnenbild dieser Inszenierung ist der erste und einer der bleibenden Eindrücke – szenisch wie metaphorisch. Wenn sich der Vorhang hebt, schauen wir unter ein Holzdach, das sich vom hinteren Rand der Bühne fast über deren gesamter Breite nach vorne hebt, etwa wie bei einer überdimensionierten, „stylischen“ Bushaltestelle. Vier Seile halten das monströse Lattengeflecht in der Schwebe. nach wenigen Minuten senkt sich die Vorderseite, die Rückseite hebt sich, und daraus entsteht eine zweite Spielebene etwa zwei Meter über der Bühne. Auf der gebogenen, sich vorne bis dicht an den Bühnenboden senkenden Fläche sind Tisch und Stühle fixiert, sogar Gläser und Tassen auf dem Tisch halten ihre Position bei jeder Neigung. Das Ganze wirkt dank der auf der linken Seite sich aufschwingenden Konstruktion ein wenig wie eine übergroße, schwankende Chaiselongue, auf der sich das Leben der Familie Schelesnow abspielt. Je nach dramaturgischer Situation wird die Rückseite angehoben, so dass sich eine nach vorne zum Zuschauerraum buchstäblich abstürzende Spielfläche bildet, auf der sich die Darsteller förmlich festkrallen. Der metaphorische Charakter ist unübersehbar: die Lebensgrundlage dieser für das Russland des frühen 20. Jahrhunderts exemplarischen Familie schwankt nicht nur an dünnen Fäden – die Ziegelfabrik der Schelesnows kämpft gegen die Pleite – sie wird auch schnell zur schiefen Ebene, auf der die Familie abzustürzen droht – und es zum Schluss teilweise auch tut.
Die zweite Metapher liefert der Ehemann der resolut über Firma und Familie herrschenden Wassa Schelesnowa. Seit Monaten liegt er auf dem Sterbebett, verweigert aber partout den finalen Atemzug. Die Familie ist angesichts der „Hängepartie“ hinsichtlich Nachfolge und Erbschaft wie paralysiert. Mit diesem Bild beschreibt Gorki die Situation Russlands am Anfang des 20. Jahrhunderts: die Monarchie liegt historisch – aus der Sicht der kritischen Intelligenz – in den letzten Zügen, krallt sich aber an die Macht. Die Schelesnowa steht für die Vertreter des alten (Gutsherren-)Systems, das die Macht nicht abgeben will, und die Söhne symbolisieren eine unfähige, geradezu verkrüppelte junge Generation, die aus Gorkis Sicht zu einer Revolution nicht fähig ist. Der eine Sohn – Pawel – ist tatsächlich verkrüppelt, der andere – Semjon – einfältig. Keinen von beiden sieht die Schelesnowa als zukünftige Firmen- und Familienoberhäupter. Als Pawel und Semjon nach dem doch noch eingetretenen Tod des Vaters auf ihr traditionelles Recht als Erben udn Nachfolger pochen, präsentiert ihnen ihre Mutter ein – echtes? – Testament des Vaters, der alles ihr vermacht, und jagt sie aus dem Haus. Die Revolution ist bereits vor dem Ausbruch gescheitert. Gorki konnte die kommenden Ereignisse des Ersten Weltkrieges und der Oktober-Revolution nicht vorausahnen.
Nur in den Frauen sieht Gorki zukünftiges Potential. Das gilt weniger für die ambivalente Figur der Schelesnowa, die alle Mittel zum Machterhalt einsetzt, als vielmehr für die jungen Frauen: ihre Tochter Anna, in Moskau nicht sehr glücklich mit einem erfolgreichen Offizier verheiratet, und die beiden Frauen ihrer Söhne. Die lebensdurstige, etwas leichtfertige Ludmilla ekelt sich vor ihrem verkrüppelten Mann, und die latent intrigante Natalja steurt den einfältigen Semjon nach Belieben in Richtung Erbschaft. Beide haben jedoch für sich selbst eine klare Vision von einem zukünftigen Leben, das sie auf keinen Fall in diesem abgelegenen Provinznest beschließen wollen. Als Gegenentwurf zu den im Haushalt der Schelesnowa durchgefütterten Familienmitgliedern – wir kennen diese Konstellation von Tschechow – fungiert die Dienstmagd Lipa, die nicht nur wegen ihrer Einfältigkeit ausgenutzt und schikaniert wird, sondern schließlich sogar auf geradezu widerlich erpresserische Art zu einem Mord gezwungen wird. Von Gewissensbissen geplagt, sieht sie nur noch im Selbstmord einen Ausweg.
Die Kostüme von Andrea Schraad verleihen dem metaphorischen Charakter dieser Inszenierung einen zusätzlichen ironischen Unterton. alle sind in helle, pastellfarbene Kostüme gekleidet, wie sie die Oberschicht auf ihren Sommersitzen zu tragen pflegte: eierschalenfarbene, enge und lange Kleider und Anzüge mit Weste in der selben Farbe. Nur Anna bringt aus dem fernen Moskau ein wenig frische Farbe in die Familie, und Pawel hat die gepflegte Gutsherrenkleidung provokativ durch eine bewusst nachlässige Aufmachung ersetzt. Die anderen pflegen das Bild einer hell gekleideten und daher per se „heiteren“ Familie, obwohl das Schwarz der Verzweiflung besser zu ihnen passen würde.
Die Inszenierung von Andreas Kriegenburger zeichnet sich durch konzentrierte Dichte und den Verzicht auf jegliche modische Schnörkel oder aufgesetzte Aktualisierungen aus. Darüber hinaus sorgen jedoch originelle Regieeinfälle für etwas Heiterkeit. So legen zu Beginn Lipa und Dunja Tischtücher zusammen, die bei den verschiedenen Wendungen und Faltungen den stummen Dialog der beiden Frauen wie auf einem Plakat wiedergeben. Kriegenburg erzählt die Geschichte der Schelesnowa kompromisslos, jedoch ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Die Schelesnowa verkörpert einerseits die alte Macht und greift zu deren Erhalt auch zu kriminellen Mitteln, allerdings ist das Ziel des Mordversuchs, ihr Schwager Prochor, selbst ein lüsterner Lebemann ohne jegliche Moral. Das entschuldigt zwar nicht den Mordversuch, schafft aber auch keinen Märtyrer. Auch den Krüppel Pawel machen Kriegenburgs Regie und Tino Hillebrands Spiel nicht zum beklagenswerten Opfer sondern zu einem von Selbst- und Welthass zerfressenen Rebell gegen alles und jeden. Martin Vischers Semjon, im Text als geistig minderbemittelt beschrieben, ist dagegen fast zu alert und fast ein wenig witzig. Man nimmt Vischer – zumindest streckenweise – eher den Sarkastiker mit spontanen Clown-Attitüden als den Dummkopf ab.
Großartig Christiane von Poelnitz als Wassa Schelesnowa. Sie zeigt zwar von Beginn an Durchsetzungskraft und auch Härte, dahinter spürt man jedoch immer wieder die Einsamkeit und die Verletzlichkeit des Machtmenschen, der sich niemandem anvertrauen kann. Erst zum Schluss zeigt die Schelesnowa ihre andere Seite, und Christiane von Poelnitz präsentiert dieses „coming out“ ohne falsche Sentimentalität. Für kurze Zeit wird die ungeheure innere, fast tragische Spannung dieser Figur sichtbar. Andrea Wenzl setzt mit der Anna einen markanten Gegenentwurf. Hier wird die Hoffnung auf eine neue Generation spürbar. zwar ist auch sie zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad in die familiären Konflikte involviert, doch sie hört viel zu, beschwichtigt und versucht sogar, ihrer eigenen Mutter maßvoll zu widersprechen. Andrea Wenzl charakterisiert diese Anna als nachdenklichen, mal distanzierte, mal empathische Figur, die versucht, einen neuen Lebenssinn für sich und die Familie zu finden. Gegen die Verhältnisse kann jedoch auch sie nicht viel ausrichten. Hervorzuheben ist auch die Leistung von Alina Fitsch als Dienstmädchen Lipa. Sie verlieh dieser ausgebeuteten und in den Tod getriebenen Vertreterin der unterdrückten Unterschicht ein persönliches Gesicht und ließ das Publikum die Verzweiflung dieser armen Kreaturen geradezu physisch spüren. Bleibt noch zu erwähnen, dass in dieser Aufführung Falk Rockstroh kurzfristig den erkrankten Peter Knaak in der Rolle des Prochor vertrat. Er tat dies trotz mitgeführtem Textbuch professionell und brachte sich auch darstellerisch glaubwürdig ein.
Diese Inszenierung fällt sicher nicht unter die Rubrik „Mach dir ein paar schöne Stunden, geh´ ins Theater“, denn Schönes, Gutes und Wahres wird hier nicht verhandelt. Eher der verzögerte Absturz einer Schicht, die sich bis zum bitteren Ende an Macht und Privilegien klammert. Andreas Kriegenbusch hat dieses Lehrstück mit düsterer Konsequenz auf die Bühne gebracht.
Frank Raudszus
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