Das St. Pauli Theater präsentiert Florian Zellers gleichnamige Komödie mit brisantem Witz
Michel (Herbert Knaup) durchschreitet die Tür seiner Pariser Wohnung mit kräftigem Schritt – man sieht förmlich den vor Dynamik wehenden Mantel. Und es ist direkt in diesem Moment, wo man feststellt: Michel ist in großartiger Verfassung – die Mundwinkel reichen bis zu den Ohren und die Augen leuchten wie bei einem sechsjährigen Jungen, der soeben ein Kettcar von seinem Onkel zum Geburtstag empfangen hat. Unter der Annahme, dass das einen Sechsjährigen heute noch so begeistern würde, wie zu meiner Kindheit. Was ist es also, das diesen Mann in seinen Fünfzigern in eine solch kindliche Euphorie versetzt? Seine Frau Laurence (Anne Weber), aufgeschreckt von der sich kräftig schließenden Tür, betritt nun ebenfalls das Wohnzimmer und schaut ihren Mann mit so großer Neugier an, als beobachte sie die Zellteilung eines Pantoffeltierchens unter dem Mikroskop. Und dann bricht es aus Michel heraus. Heute sei der fröhlichste Tag seines Lebens. Ihm sei ein nicht mehr zu erahnendes Glück widerfahren, woran er schon lange nicht mehr geglaubt hatte! Bei allem freudigen Mitgefühl und Spannung, die man nun für Michel empfindet, windet sich auch etwas Ungemach aus dem Bauch empor. Als verheirateter Mann in einer glücklichen Ehe und mit einem bezaubernden Kind sollte man doch vorsichtig umgehen mit den Begriffen „größtes Glücksempfinden meines Lebens“. Laurence ist diese Skepsis nun auch schon etwas anzusehen. Man hofft nun insgeheim, dass Michel sich nicht um Kopf und Kragen redet, und geht aus der Lehne in die aufrechte Sitzposition, wobei die Hände zwischen den Oberschenkeln eingeklemmt verharren. Ein erstes Zeichen dafür, dass dieses Stück nicht nüchtern intellektuell unterhält, sondern von der ersten Minute an Seele und Herz ergreift. Die Worte überspringen einander, als Michel eine Schallplattenhülle erst in die Höhe streckt und dann mit größtem Stolz seiner Frau präsentiert. Ihre Gesichtszüge sind nun bereits merklich erschlafft. Offensichtlich ist das Pantoffeltierchen doch vor der Zellteilung gestorben. „Weißt Du was das ist?“ „Nein.“ „Oh, das solltest Du aber. Das ist das weltberühmte Album – und zwar in Originalversion – von James Lennon ‚Me, Myself and I‘!“ „Aha.“ „Erzähl mir nicht, dass Du nicht weißt, wer James Lennon ist, geschweige denn diesen weltberühmten Song aus unserer Jugend nicht kennst!? Das ist mit das größte kulturelle Erbe unserer Zeit!“ „Na schön. Und das ist nun das größte Glück für Dich, diese Platte gefunden zu haben?“ Der Dialog setzt sich einige wenige Wechsel so fort. Letztlich merkt Michel aber gar nicht, wie seine Frau die Situation auffasst. Das ist ihm aber auch gerade egal, denn er möchte nun eine Stunde Ruhe genießen und einfach den Tönen dieser Platte lauschen. Verzückt und pfeifend tänzelt er zu seinem Schallplattenspieler, während seine Frau sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen zurückzieht.
Diese erste Episode ist bereits bezeichnend für den Verlauf des von Florian Zeller geschriebenen Stücks und dessen durch Ulrich Walter als Regisseur umgesetzter Bühnenversion. Die Situationen und Dialoge sind aus dem Heute extrahiert und umschließen die eigenen Gefühle und Emotionen mit einem direkten Griff in das Körperinnere – irgendwo dort zwischen Bauch, Herz und auch etwas Gehirn. Das Publikum ist aufgekratzt und es scheint, als sitze man in einer Mischung aus Standup Comedy und Theater, wo sowohl dicht getaktete Pointen die Bauchmuskeln trainierende Lachsalven produzieren – ein bekannter Comedian und Zuschauer in der Reihe vor uns vergräbt sich im Fußraum, da er sein spitzes hysterisches Lachen nicht mehr unterdrücken kann – als auch Geschichte erzählt wird, die vermeintlich seicht beginnt, aber zum Ende noch in der Vehemenz und Durchschlagskraft von Beethovens 5. Symphonie endet. Dies mag zwar etwas hoch gegriffen klingen, aber die süße Würze auf der Zunge zu Anfang entwickelt sich tatsächlich zu einem wahren Feuerteufel des Geschmacks.
Das Stück wird im weiteren Verlauf davon getrieben, dass Michel eben nicht dazu kommt eine Stunde Ruhe zu genießen. Wieder und wieder wird er unterbrochen und kommt nicht Mal eine Minute dazu, den Tönen seiner Platte zu lauschen. Da ist Mama, die anruft und Michel in die Rolle des pubertierenden Sohns zurückfallen lässt. Sein eigener Sohn, der in die „Gothic“-Szene abgedriftet ist und mit aller Ablehnung des konventionellen Lebens nun auch noch seinen neuen Künstlernamen als einzigen Namen durchsetzen will: „nicht Sebastian, sondern Fu**ing Red – wie oft soll ich das noch sagen!?“. Und der vermeintlich polnische Installateur, der auf Bitten seiner Frau das Bad saniert und dabei quasi das ganze Haus in Abwasser ertränkt und nahezu zum Einsturz bringt. Jedenfalls kommt es zum Wasserdurchbruch beim Mieter eine Etage tiefer, der dann sogleich auch in der Wohnung Michels und Laurences auftaucht. Trotz der Grand Catastroph dennoch nur ein weiterer lästiger Störenfried, der Michel vom geliebten „Me, Myself and I“ abhält. Und als ob es nicht schlimmer kommen könnte, kommt es schlimmer. Und zwar viel schlimmer! Obwohl Michel es noch mit Freude aufnimmt. Denn letztlich geht es ihm nur um eins – er will jetzt diese Platte hören!
In wichtiger werdenden Nebenrollen treten noch Alice (Johanna Christine Gehlen), Laurences beste Freundin, und Paul (Erik Schäffler), Michels bester Freund, auf. Hinzu kommten Sohn Sebastian (Martin Wolf, sowie Nachbar und Installateur. Schauspielerisch wird das Stück natürlich sehr stark von der Rolle und Person des Michel getragen, wobei auch Laurence als direkter Gegenpart sehr glaubwürdig überzeugt. Alice und Paul kommen begrenzt zur Geltung, fügen sich aber gut in das Stück ein – der geschädigte Nachbar Pavel (Stephan Schad) kann durch sein exzentrisches Verhalten einen sehr bleibenden Eindruck hinterlassen. Einzig der Installateur, oder besser Zerstörer, wirkt nicht wirklich besonders glaubhaft. Es stellt sich auch noch heraus, dass er gar kein Pole ist, aber auch diese Rolle nahm man ihm nicht wirklich ab. Zudem überzieht er seine krawallige Art und lässt das Bad-Desaster zu sehr ins Überzogene abgleiten. Als Pointe taugen die Auftritte leider kaum noch. Trotzdem bleiben der Spaß und die Gefühlsintensität dieses Stückes davon unberührt. Wer also gerne herzlich lacht und etwas tatsächlich Spürbares von gewissem intellektuellem Wert sehen möchte – also nicht pure Comedy – dem kann das Stück „Eine Stunde Ruhe“ nur wärmstens ans Herz gelegt werden.
Malte Raudszus
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