Die nüchterne Herleitung eines beliebten Kampfbegriffs.
Der Begriff „Kapitalismus“ weckt heute beim Hörer eine Art Pawlowschen Reflexes. Je nachdem, wie man zu diesem „Phänomen“ steht, wird man in eine aggressive oder auch idealisierende Stimmung verfallen, wobei erstere mittlerweile deutlich überwiegt. Nachdem Karl Marx sich noch bemüht hatte, eine aufwändige Definition zu entwickeln, haben spätere Adepten und Epigonen diese Definition nicht nur wie eine Heilslehre übernommen, sondern – schlimmer noch – sie benutzen diese Bezeichnung einer Wirtschaftsform heute als reinen Kampfbegriff, ohne ihn sachlich einzugrenzen oder an konkreten Forderungen und Randbedingungen zu messen. An der intellektuellen Front ist da vor allem Slavoj Zizek zu nennen, der in seinen Büchern „Blasphemische Gedanken“ und „Der neue Klassenkampf“ den Kapitalismus als Hauptschuldigen für die Misere der Welt benennt, ohne dies im Einzelnen nachzuweisen. Zu sicher wissen er und andere Autoren ähnlicher Ausrichtung, dass dieses Reizwort nahezu automatisch seine gewünschte Wirkung entfaltet, die meist in selbstgerechter Empörung besteht.
Jürgen Kocka, emeritierter Professor der Sozialhistorik an der FU Berlin, hat sich jetzt die Mühe gemacht, diesen Begriff nicht nur zu definieren sondern vor allem seine Bedeutung in der Geschichte herauszuarbeiten. Dabei mag der Ärger über die in weiten Kreisen übliche Reduktion auf einen unreflektierten Kampfbegriff durchaus eine Rolle gespielt haben.
Natürlich dürfen Marx und und andere bedeutende Geister der ökonomischen Forschung (und Kritik) nicht fehlen. Gleich zu Beginn geht Kocka detailliert auf Marx´ Lehre vom Kapitalismus ein und diskutiert dessen vier Säulen des Kapitalismus (Arbeitsteilung, Akkumulation, Produktionsmittelbesitz, Dynamik), ohne sie zu diskreditieren. Er gibt Marx in vielem Recht und kritisiert nur die Extrapolation seiner Bestandsaufnahme in die Zukunft. Der Marxschen Lehre stellt Kocka spätere Theoretiker wie Max Weber und Joseph Schumpeter gegenüber, die den Kapitalismus nicht aus einer klassenkämpferischen sondern aus einer beobachtenden und analysierenden Perspektive betrachteten und neben seinen Schwächen durchaus seine Vorzüge und Stärken anerkannten.
Daraufhin entwickelt er eine konkrete und überschaubare Definition des Kapitalismus, die sich auf drei Kriterien stützt: Eigentumsrecht des unternehmerischen Subjekts, Markt als Preisregulator und Kapital aus Ersparnissen für Investitionen. Deutlich zeigt er, dass der Kapitalismus den kurzfristigen Konsumverzicht zwecks langfristiger Erfolge verlangt, obwohl er den Konsum als Motor benötigt. Hier liegt also ein inhärentes dialektisches Spannungsverhältnis vor.
Die Geschichte des Kapitalismus beginnt mit dem „Kaufmannskapitalismus“ des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, der sich im wesentlichen auf den Handel beschränkte. Dazu holt Kocka weit aus ins alte China und nach Arabien, wo bereits im ersten Jahrtausend ein reger Handel nach kapitalistischen Regeln stattfand. In Europa sind die aufsteigenden Städte und vor allem die Hanse Beispiele für diesen Kaufmannskapitalismus, der dann auch bald Geldhäuser wie die Augsburger Fugger hervorbrachte. Der Kaufmannskapitalismus wirkte sich jedoch lange Jahrhunderte nicht auf die Produktion der Güter aus, die meist noch in den alten – familiären oder handwerklichen – Strukturen erfolgte. Die erste Globalisierungswelle mit der direkten Erschließung neuer Märkte in Übersee erst durch Portugal und Spanien, später durch die Niederlande und England, verbreitete die kapitalistischen Regeln und Strukturen über die anderen Kontinente, blieb aber noch bis weit ins 18. Jahrhundert dem Kaufmannskapitalismus verhaftet.
Doch die weltweite Expansion begann langsam, sich auf Produktionsstrukturen auszubreiten. Plantagenwirtschaft und Sklaverei gehörten ebenso dazu wie der aufkommende Agrarkapitalismus oder der Bergbau. Damit einher ging ein Finanzkapitalismus, der immer neue Produkte und Methoden erfand, um weltweite Geschäfte in unterschiedlichen Währungszonen und Rechtssystemen zu tätigen. Jedoch erst mit der Industrialisierung begann der Kapitalismus die Produktionsstrukturen grundlegend zu ändern. Ausgehend von dem Zwang zur Rendite ausgeliehener Gelder musste man bei der beginnenden industriellen Revolution wegen des stark steigenden Investitionsbedarfs auf erhöhte Effizienz achten. Das schlug sich in arbeitsteiliger Organisation, zeitliche Taktung der Produktion und einer daraus folgenden Trennung der Produktion von der (privaten) Lebenswelt nieder, eben in Fabriken.
Die Aufklärung verlieh dem Kapitalismus einen weiteren Schub, da nun rationale Argumente der Effizienz gegenüber traditionellen Gebräuchen die Oberhand gewannen. Das 19. Jahrhundert präsentierte sich denn auch als Parade-Epoche für einen ungehemmten Kapitalismus. Dieser rief dann natürlich die Gegenreaktion in Form von Revolten ausgebeuteter Arbeiter, Gründung enstprechender Parteien und schließlich sozialer Gesetzgebung hervor. Im Übergang zum 20. Jahrhundert zeigte sich deutlich, dass ein funktionierender Kapitalismus nicht nur einen starken Staat als Garant der freien Geschäftstätigkeit, sondern auch als Garant sozialer Ausgewogenheit benötigt. Ein Raubtierkapitalismus ohne staatliche EInhegung zerstört sich am Ende selbst.
Die Arbeit, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft noch durch Leibeigenschaft oder gar Sklaverei geprägt, wandelte sich jetzt zur „freien“ Lohnarbeit, will sagen zu einem frei ausgehandelten Tauschgeschäft von Arbeit und Lohn. Dass die konkreten Zustände dieser „freien Lohnarbeit“ durchaus nicht immer frei waren, hat in der entsprechenden Literatur zur sarkastischen oder gar zynischen Interpretation des Wortes „frei“ geführt, ändert aber an der Tatsache des freien Aushandelns und des beiderseitigen Kündigungsrechts nichts. Mit der Änderung der Arbeitsbedingungen änderten sich schließlich auch die Leitungsfunktionen. Anstelle der familiär oder anderweitig gebundenen Firmengründer bzw. -eigner übernahmen jetzt angestellte Manager die Leitung der Firmen, was den Vorteil hatte, dass sie im operativen Betrieb keine familiären Rücksichten (z. B. Posten) nehmen sondern nur das Ergebnis gegenüber den Eignern verantworten mussten.
Das hat sich jedoch mit der heute herrschenden „Finanzialisierung“ wieder geändert. Seitdem sich der Finanzkapitalismus von der eigentlichen Produktion abgekoppelt hat und statt mit physischen Produkten mit virtuellen Finanzprodukten handelt, hat die Finanzindustrie wieder starken Einfluss auf den operativen Betrieb großer Firmen, was sich vor allem bei der „Private Equity“ zeigt, die an Traditionen und Belegschaften der Firmen keine Interesse zeigt und lediglich die Verwertbarkeit und Profitabilität betrachtet. Kocka erkennt hier mit Recht eine große Gefahr und sieht die Politik mit entsprechenden Regulierungen gefragt. De-Regulierung ist aus seiner Sicht nicht durchweg schlecht und „neo-liberal“ (um dieses Wort hier einmal in seiner polemischen Bedeutung zu verwenden), sie muss jedoch mit Augenmaß gesteuert werden und darf Investitionen und das Kapital der Wirtschaft nicht zum Spielball von Wetten machen.
Am Ende plädiert Kocka an eben diese politische Ebene, die unübersehbaren Vorzüge des Kapitalismus, der sich gegenüber allen anderen Formen – speziell den Kommunismus und Sozialismus – durchgesetzt hat, nicht durch internationales „laisser faire“ in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Die staatlichen Organe aller „kapitalistischen“ Länder müssen gemeinsam ein Regelwerk entwickeln, das die Verlagerung gefährlicher Finanztransaktionen über Ländergrenzen verhindert. Natürlich sind die Länder mit einem abgewandelten Kapitalismus-Verständnis (China, Russland) ebenfalls dazu aufgefordert.
Jürgen Kocka hat mit diesem Buch einen so übersichtlichen wie konsistenten Begriffsrahmen geschaffen, der allen zur Lektüre empfohlen wird, die den Begriff „Kapitalismus“ nur als ideologischen Begriff kennen oder gar verwenden. Das Buch ist im Verlag C.H. Beck erschienen, umfasst 144 Seiten und kostet 8,95 Euro.
Frank Raudszus
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