Hans Hentschel:“Der Tod der alten Dame“

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Was laut Titel einen Kriminalroman vermuten lässt, ist in Wirklichkeit ein theologisches Sachbuch. Der Autor war selbst als Pastor und in höheren kirchlichen Ämtern tätig und formuliert in dem vorliegenden Buch seine Sorgen über den Zustand der christlichen Kirche. Konkreter Anlass ist die ungebrochene Welle von Kirchenaustritten in beiden großen christlichen Kirchen, und Hentschel kleidet seine spirituelle Heimat metaphorisch in das Kleid einer alten Dame, die sich auf der Pflegestation befindet. Ob sie wieder gesundet oder in der Palliativstation endet, lässt der Autor offen und hält beides für möglich. 

Nüchtern und unerbittlich analysiert Hentschel die Gründe für den kritischen Zustand seiner „alten Dame“ und findet sie vor allem bei der Kirche selbst. Nicht die böse säkulare Welt entfremdet die Menschen vom Glauben, sondern typische Entwicklungen einer Institution, die Spontaneität und Offenheit einerseits einem dogmatischen und selbstgerechten Überlegenheitsdenken opfert, andererseits jedoch auch für einen kurzatmigen Populismus anfällig ist. Viel zu oft betonen laut Hentschel Kirchenvertreter ihren „richtigen“ moralischen Standpunkt gegenüber einer dem Hedonismus frönenden Gesellschaft, und mit souveräner Konsequenz verweigerten viele Pastoren ausgetretenen Mitmenschen einen plötzlichen Wunsch nach seelsorgerischer Betreuung, sei es bei einer kirchlichen Trauung oder bei einer Beerdigung.

Auch die zunehmende Verwaltungsmentalität vieler Gemeinden bis hin zu eingeschränkten Sprechstunden rügt er und fordert freundliche Offenheit der Kirche vor allem gegenüber Kirchenskeptikern. In diesem Zusammenhang verlangt er auch mehr Humor statt todernster, sprich: langweiliger Predigten und fordert sogar „Theotainment“ und Showelemente ein. Die Kirche müsse sich den Menschen letztlich wie zu gewinnenden „Kunden“ präsentieren und nicht wie eine Vergabestelle für höhere Weihen.

In der ambivalenten kirchlichen Aufgabe des Missionierens erkennt Hentschel aus gegebener historischer Erfahrung die Gefahren des Kolonialismus, ohne deswegen die ursprüngliche Sendung zum Missionieren abzulehnen. Doch auch hier verlangt er mehr Zurückhaltung und Offenheit für andere spirituelle Lebensentwürfe.

So buchstabiert Hentschel das Verhältnis von Mensch und Kirche systematisch durch und zeigt dabei die Verkrustungen und die Nabelschau beider großen Kirchen auf. Auf der anderen Seite sieht er auch die heute gerne präsentierte politische Stellungnahme und Parteinahme kritisch. Die Kirche solle sich zwar nicht von der Politik fernhalte, da sie letztlich genauso wie andere Institutionen zur Gesellschaft gehöre, doch ihre Hauptaufgabe liege im spirituellen und seelsorgerischen und nicht im partei- oder geopolitischen Bereich. Zwar erwähnt Hentschel nicht die AfD, aber in diesem Zusammenhang ist es zumindest problematisch, wenn die evangelische Kirche ausdrücklich darauf hinweist, dass AfD-Wähler bei ihr keine Bleibe fänden.

Am Schluss präsentiert Hentschel noch ein medikamentöses Alphabet für die kranke Dame, in dem von Ansprechbarkeit über Humor und Leichtigkeit bis hin zu Zuversicht alles vorkommt.

Zwar kann man dem gläubigen Autor in den meisten Punkten zustimmen, doch die zentrale Diagnose der alten Dame verschweigt er. Die in Zeiten einer geozentrischen Weltsicht entstandene (christliche) Religion stellt Gott nicht nur als allmächtigen Schöpfer der Welt, sondern auch als liebenden und sorgenden Vater jedes einzelnen Menschen dar. Nachdem der Logos der Naturwissenschaften jedoch ein Universum aus Milliarden Galaxien mit jeweils Milliarden Sternen entdeckt hat, ist diese Fokussierung auf die Lebensspuren eines winzigen Planeten in einem kleinen Sonnensystem einer mittelgroßen Galaxis nicht mehr vermittelbar. Außerdem wirkt die Rettung des Menschen einschließlich Auferstehung angesichts der in der Geschichte des Universums aufgetretenen Massensterben und Naturkatastrophen bis hin zu einer Supernova mehr als unrealistisch. Von den menschengemachten Katastrophen – Holocaust – ganz zu schweigen. Und auch die Wunder wie die „unbefleckte Empfängnis“ oder Wiederbelebung der Toten finden heute keine gläubige Gemeinde mehr.

Die Kerndogmen des christlichen Glaubens sind nicht mehr vermittelbar, es sei denn, man entschärft sie als nur metaphorische. Aber das käme einem spirituellen Selbstmord gleich. 
Es steht also zu befürchten, dass die alte Dame tatsächlich in die Palliativstation wechselt. Im besten Fall würde ein konsequenter Humanismus ihre Rolle übernehmen, doch es gibt leider auch andere Anwärter.

Das Buch ist im Claudius-Verlag erschienen, umfasst 159 Seiten und kostet 16,99 Euro


Frank Raudszus

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