Die britische Autorin Samantha Harvey erhielt 2024 den Booker Prize für ihren neuen Roman „Umlaufbahnen“. Und das zurecht. Harvey setzt sich in diesem Roman mit Sinn und Zweck der Raumfahrt auseinander. Sie entwirft ein ambivalentes Bild des menschlichen Fortschrittsgeistes, der Suche nach neuen Lebensräumen außerhalb der Erde, des unaufhaltbaren Strebens in eine ferne Zukunft.
Mit Samantha Harvey begleiten wir sechs Menschen, vier Männer und zwei Frauen, auf ihren 16 Umlaufbahnen um die Erde in 24 Stunden. Sie umrunden die Erde über die Pole, immer in der gleichen Bahn, was sie aber unten sehen, verschiebt sich wegen der Erddrehung immer weiter nach Westen. Von oben sehen sie den Planeten Erde in seiner glänzenden Schönheit im Dunkel des Alls als eine „polierte Perle“, die leuchtet wie eine blau-grüne Glasmurmel. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts im Weltraum müssen sie dieses Wunder immer wieder bestaunen.
Auf diesem wunderschönen Planeten sehen sie die Menschen nicht, nur wo es Nacht ist, schafft der Lichterglanz einen Abglanz von menschlichem Leben. Angesichts der unermesslichen Größe des Alls werden die Menschen unbedeutend. Die sechs Menschen in dem Raumschiff sind hin- und hergerissen zwischen ihrer irdischen Existenz und dem Leben in der Schwerelosigkeit. Sie reflektieren die Bedeutsamkeit ihrer menschlichen Beziehungen, sie denken nach über den Tod eines geliebten Menschen, über die Liebe zu ihrer Familie auf der Erde, über ihre Sehnsüchte dort unten. Es entsteht eine innere Diskrepanz zwischen dem Wunsch, wieder dort zu sein bei den anderen Menschen, und der Sehnsucht, immer im All zu bleiben.
Das führt zu weiteren Fragen, insbesondere der Frage nach dem Sinn der Raumfahrt überhaupt und nach der Frage, ob man angesichts des Weltalls noch an Gott glauben kann.
Samantha Harvey vermittelt über ihre Figuren eine kritische Sicht auf den menschlichen Fortschrittsglauben. Ihren Protagonisten wird klar, dass es nicht um sie selbst als Individuen geht, sondern dass sie nur Mittel zum Zweck sind. Sie sind die „Weltraumratten“, die im Experiment getestet werden darauf, wie der Weltraum und die Schwerelosigkeit sich auf die physische und psychische Konstitution des Menschen auswirken. Sie dienen mit ihren Aufgaben der ständigen Dokumentation ihrer selbst und mit verschiedensten Experimenten – auch an Tieren – dem weiteren Fortschritt, also der Zukunft. Schon während sie die Erde umkreisen, startet ein anderes Raumfahrtabenteuer mit vier Menschen an Bord, die auf dem Mond landen werden. Das Abenteuer der sechs Erdumrunder ist damit schon fast überholt.
Samantha Harvey stellt mit ihren Figuren die Frage, wo das alles enden soll. Wird die Menschheit, nachdem sie die wunderbare Erde ausgeplündert hat, einen anderen Planeten in Angriff nehmen? Sich etwa auf dem Mars niederlassen, um dort genauso viel anzurichten wie auf der Erde? Wird die Erde sich ohne die Menschen erholen können? Oder werden die Menschen den Planeten mit Atombomben gänzlich zerstört haben?
Schon jetzt ist das Weltall angefüllt mit Millionen Überbleibseln der menschlichen Abenteuerlust, die alle um die Erde kreisen.
Wie klein und hilflos die Menschheit gegenüber den Naturgewalten ist, zeigt sich an dem auf die Philippinen zurasenden Taifun. Von oben ist er nur ein Wolkenwirbel, auf der Erde bringt er Tod und Vernichtung, ohne dass sich die Menschen wehren können. In größter Not versammeln sich Menschen zum Gebet, auf den wissenschaftlichen Fortschritt ist kein Verlass. Rettung ist bloßer Zufall.
Die Kraft des Taifuns zieht sich als Motiv durch die Erzählung: Er wird zum Symbol der Schwäche der Menschen und ihrer Hybris, dass sie meinen, die Welt und in Zukunft auch das All beherrschen zu können.
Samantha Harveys Roman ist ein Appell an die Wissenschaft, an die Politik, aber auch an jeden Einzelnen, sich dieser Hybris bewusst zu werden. Müsste es nicht eher darum gehen, unseren wunderschönen Planeten zu bewahren, statt ihn weiter zu zerstören?
Einen ähnlichen Appell gegen die menschliche Eitelkeit und Überheblichkeit sieht sie in dem Bild „Las Meninas“ von Velázquez. Dieses Bild ist ein Spiegellabyrinth, das große Rätsel aufgibt, wer hier wen betrachtet und was der Maler, der selbst im Bild ist, eigentlich malt. Die Frau des Astronauten Shaun hat ihm dieses Bild als Postkarte mitgegeben, weil das Bild für beide lebensgeschichtliche Bedeutung hat. Erst jetzt, aus dem Abstand zur Erde, versteht Shaun eine wichtige Botschaft des Bildes. Velázquez stellt die Menschen auf diesem Bild mit ihren Eitelkeiten, mit ihren „Manschetten und Rüschen“ dar, jeder und jede scheint sich überlegen und wichtig zu fühlen. Nur ein Wesen macht das Spiel nicht mit: Es ist der Hund, der ganz gelassen mit geschlossenen Augen im Vordergrund des Bildes liegt.
Es ist wunderbar, mit welcher Liebe Samantha Harvey unseren Planeten immer wieder leuchten lässt, und das in einer Sprache, die uns als Leserinnen und Leser ganz intensiv an dem Schauspiel teilhaben lässt. Souverän beherrscht sie den Wechsel zwischen Darstellung der Innenwelt ihrer Protagonisten und der Außenwelt, insbesondere auch den Umgang der sechs Menschen mit ihrer eigenen Schwerelosigkeit.
Samantha Harvey hat ganz offenbar sehr gut recherchiert, denn sie macht uns als Leserinnen fast glauben, sie habe selbst an einer Raumfahrt teilgenommen. So erfahren wir gleichzeitig eine Menge über die technischen Voraussetzungen, über das notwendige Ineinandergreifen von vielen Steuerungsmitteln, die eine sichere Rückkehr zur Erde, insbesondere das gefährliche Wiedereintauchen in die Atmosphäre, möglich machen. So schwingt bei aller Kritik an der menschlichen Hybris doch auch Bewunderung für die wissenschaftlichen und technischen Leistungen mit, die das Raumfahrtabenteuer erst ermöglichen. Es ist eben die Ambivalenz, die auch die Astronautinnen und Astronauten an Bord selbst empfinden: Sehnsucht nach Rückkehr und Wunsch, immer oben zu bleiben.
Samantha Harvey beschert uns mit diesem kleinen, sehr dichten Roman, der eigentlich eher ein langer Essay ist, ein großes Lesevergnügen und lässt uns gleichzeitig sehr nachdenklich zurück. Ich habe das Buch gleich ein zweites Mal gelesen. Und auch das hat sich gelohnt.
Samantha Harvey, Umlaufbahnen. Aus dem Englischen übersetzt von Julia Wolf. DTV Verlag, 223 Seiten, 22 Euro.
Elke Trost
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