Fast gleichzeitig wie das Staatstheater Darmstadt mit seiner Inszenierung von „Stolz und Vorurteil“ hat nun auch die Arheilger „Neue Bühne Darmstadt“ das England des mittleren 19. Jahrhundert auf die Bühne gebracht. Wilkie Collins´ Roman „Die Frau in Weiß“ aus dem Jahr 1860 spielt mit denselben gesellschaftlichen und emotionalen Versatzstücken, legt jedoch den Schwerpunkt auf die Auflösung einer kriminellen Verschwörung.
Die Rollen sind ein wenig stereotyper als bei Jane Austen, wie etwa ein durch die Industrialisierung in finanzielle Turbulenzen geratender Landadel, der sich nur durch lukrative Heiraten vor der Pleite retten kann. Oder die Entrechtung der Frauen, die ihre Mitgift an die – von den Männern ausgehandelten – Ehemänner übergeben müssen; der (klein-)bürgerliche Mann – hier ein Zeichenlehrer -, der aus Liebe zu der jungen Adligen das verbrecherische Komplott des bankrotten Adels fast im Alleingang aufdeckt und die Schuldigen entlarvt. Doch auch die Politik findet hier ihren Niederschlag in dem zwielichtigen italienischen Grafen aus dem italienischen Risorgimento, der die cholerische Unbeherrschtheit des von der Pleite bedrohten Adligen für seine Zwecke nutzt und mit einem perfiden Plan alles zu seinen Gunsten zu drehen meint – wäre da nicht der junge Zeichenlehrer.
Und auch die weibliche Emanzipation kommt zu Wort. So wirkt Marian, die Halbschwester der jungen Adligen Laura, zuerst wie eine berechnende Konkurrentin, der man zutraut, dass sie aus Eifersucht das junge Liebesglück zerstört, doch dann erweist sie sich als klarsichtige, tatkräftige Frau, die sich durchaus gegen die männlichen Machenschaften wehren kann. So steht dann nach vielen Turbulenzen dem glücklichen Ende mit der Vereinigung der Liebenden und der Bestrafung der Bösen nichts im Wege.
Renate Renken hat diese englischen Kriminalroman mit Gruseleffekt im distanzierten britischen Stil inszeniert. Die Ensemblemitglieder – vor allem der Onkel (Rainer Poser) der beiden jungen Frauen und der Zeichenlehrer (Stefan Peschek) – begeben sich immer wieder in die Erzählerposition und fassen von dort aus in britisch gehobener Sprache Ereignisse und Hintergründe zusammen, um dann unmittelbar wieder in ihre Rolle einzutauchen. Der einzige, der in diesem Stück emotional aus der Rolle fällt, ist der finanzkranke Sir Percival Glyde, Lauras angehender Ehemann, dem seine Schulden über den Kopf wachsen und der darob die britische Contenance verliert. Axel Räther verleiht ihm die unkontrollierte Wut eines Menschen, dem seine gesamte Lebensplanung um die Ohren zu fliegen droht und der seine Rettung zu erzwingen versucht. Rainer Poser ist ihm als der bereits erwähnte italienische Conte ein kongenialer Partner und bringt die intriganten Charakterzüge dieser schillernder, vordergründig charmanten Figur mit viel Gespür für Zwischentöne zum Ausdruck.
Nicole Klein verleiht der jungen Marian den Stolz und das Selbstbewusstsein einer neuen Frauengeneration, die nüchtern denkt und handelt und die Winkelzüge der dominanten Männergesellschaft zunehmend erkennt und mit all ihren Möglichkeiten bekämpft. Vivien Pantea Seifert gibt dagegen das damalige weiblich Gegenstück in Gestalt der Laura, die die von Männern dominierte Welt nur passiv erleidet und sich die Rettung vom geliebten Mann oder der Schwester erhofft. Doch auch ihre Laura lernt mit Marians Hilfe, im entscheidenden Moment „nein“ zu sagen. Überdies spielt Vivien Pantea Seifert in einer Doppelrolle auch die gehetzte und verängstigte „Frau in Weiß“, deren dramaturgische Funktion wir hier nicht verraten wollen. Dabei hat die Autorin bewusst eine äußere und charakterliche Ähnlichkeit dieser beiden Figuren angestrebt, die sich durch die Doppelrolle auch in der Inszenierung ausdrückt.
Das britische Justizsystem ist durch den Anwalt Gilmore (Jens Hommola) vertreten, der in seiner Unbestechlichkeit und Nüchternheit das Vertrauen der Bevölkerung in das britische Justizsystem widerspiegelt. Ganz bewusst hat die Autorin seine Warnungen vor einem für die junge Ehefrau geradezu gefährlichen Ehevertrag eingebracht, die der dekadente Adel in Gestalt des hypochondrischen – heute würde man sagen „dementen“ – Onkels der beiden jungen Frauen jedoch vom Tisch wischt. Männer machen solche Eheplanungen unter sich aus!
Und auch die aus anderen Romanen bekannte Unterwelt dieser Zeit lassen Autorin und Regisseurin zu Wort kommen. Renate Renken hat dafür zwei besonders große Männer ausgesucht, die in abgerissenen dunklen Mänteln sowie nicht nur den Helden verfolgen und bedrohen, sondern mit falschen Zahnlücken und geschminkten „blauen Augen“ auch optischen Schrecken verbreiten. Beim Schlussapplaus lächeln aber dann auch sie.
Wie immer begleitet Heike Pallas das Bühnengeschehen mit teils düsteren, teils spannungsvoll geladenen Klängen am Klavier, die dieser seltsamen emotionalen Mischung aus abklingender Romantik und aufkommendem Naturalismus eine ganz eigene Wirkung verleihen.
Das Publikum bedankte sich bei dem Ensemble mit kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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