Der Untertitel der Inszenierung von „Stolz und Vorurteil“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt lautet „Stückentwicklung nach dem Roman von Jane Austen“ und beleuchtet schlaglichtartig die Herangehensweise der Regisseurin Anna Malena Große: statt des fragwürdigen Versuchs einer vollständigen Bühnenfassung des epischen Romans wie etwa bei „Krieg und Frieden“ sozusagen ein bühnentauglicher Laborversuch über die Lage der Frau im England des frühen 19. Jahrhunderts, Anspielungen auf die gegenwärtige Lage eingeschlossen.
Der Ansatz zeigt sich bereits in der ersten Szene auf einer leeren Bühne, die als großformatigen Videoclip den durchaus profanen Akt der Anschaffung einer echten Kutsche durch das Staatstheater bei einem entsprechenden Anbieter einschließlich der Bezahlung mit 3.500 Euro in bar zeigt. Man kann auf diese an den Beginn gestellte, durchaus banale Szene mit Stirnrunzeln reagieren, doch zeigt sie auf hintergründige Art das Thema dieser Inszenierung: die Ausstellung einer edlen, ja: schönen Ware, die entsprechend solvente Liebhaber mit gutem Geld erwerben können. Folglich bildet diese weiße Kutsche die zentrale Requisite für fast die Dauer der Aufführung und dient mal als symbolischer Herrensitz, mal als trauter Rückzugsort für angedeutete Schäferstündchen. Doch verfällt die Regie nicht der Versuchung, ins Erotische oder gar Anzügliche zu abzugleiten. Wie bei Jane Austen bleiben diese Aspekte hinter den grundsätzlichen des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und den gesellschaftlichen Ebenen verborgen.
Die Handlung selbst ist so knapp wie brisant. Die gesellschaftlich eher durchschnittlich situierte Familie Bennet muss fünf Töchter unter die Haube bringen, was die Mutter (Gabriele Drechsel) vollständig in Anspruch nimmt. Denn das überschaubare Erbe fiele bei einem eventuellen Tod des Vaters (Hubert Schlemmer) an dessen unehelichen Sohn als einzigem männlichen Erben, da Frauen damals nicht erben konnten und schlimmstenfalls der Armut verfielen. Als daher der junge reiche Junggeselle Bingley in die Nachbarschaft zieht, sucht die Mutter sofort nach einem Kontakt für die mit 23 Jahren bereits gealterte Tochter Jane. Während sich Janes Beziehung zu Mr. Bingley nur zögerlich entwickelt, wirft dessen arroganter Freund Darcy seine Blicke auf Janes freche und selbstbewusste Schwester Lizzy, die bei ihrem Vater längst als hoffnungsloser weil unangepasster Fall gilt. Doch Standesdünkel auf der einen und spontane Antipathie auf der anderen Seite lassen diese Beziehung von vornherein zu einem Dornenweg werden.
Jane Austens Roman geht der Entwicklung dieser Beziehungen in epischer Breite nach, einschließlich weiterer Personen und Verwicklungen. Dabei dreht sich jedoch alles um die Vorrechte der Männer und die Verdinglichung der Frauen zur handelbaren Ware, wenn die Autorin das auch nicht in dieser marxistischen Weise ausdrückt. Anna Malena Große hat sich bei ihrer Version dagegen auf diese speziellen Aspekte konzentriert und das Stück weitgehend auf die entsprechenden Szenen verkürzt. Dabei verzichtet sie bewusst auf die „Happy End“-Auflösung am Ende, aber weniger wegen des kitschigen Aspekts, sondern eher, weil der gesellschaftliche Skandal der Verdinglichung der Frau und nicht die scheinbare Versöhnung in der gelungenen Heirat den Mittelpunkt ihrer Inszenierung bilden soll. Regisseur Florian Mahlberg, der krankheitsbedingt die Endfassung der Regie verantwortete, hat diesen Standpunkt übernommen und bietet die bereits erwähnte Laborversion über die Verdinglichung als kontrastreiche Folge eindringlicher und temporeicher Szenen an.
Dazu gehören unter anderem die wiederholten Aufreihungen der fünf Bennet-Töchter Jane (Lisa Eder), Lizzy (Aleksandra Kienitz), Lydia, Kitty und Marygret zu Showtänzen, die zeigen sollen, wie diese Heiratskandidatinnen damals geradezu vorgeführt wurden. Lisa Eder zeigt an der Figur der Jane deutlich, wie sich die Torschlusspanik bereits bei jungen Mädchen verfestigt hatte und wie man sich kritiklos solventen Junggesellen anbot, um die Eltern von einer lebenslangen Belastung zu befreien. Eigene Lebensentscheidungen oder gar Glück spielten keine Rolle. Auf der anderen Seite zeigen Nico Ehrenteit als Mr. Bingley und Florian Donath als Mr. Darcy, wie stark auch die Männer in diese für sie vorteilhafte Konstellation eingebunden waren und sie für selbstverständlich hielten. Großartig Nico Ehrenteits furioser Soloauftritt als Musk-Kopie, der die Vermarktbarkeit von Allem mit narzisstischem Trump-Einschlag feiert. Aleksandra Kienitz verleiht der aufmüpfigen Lizzy ein rebellisches Profil und lässt sie in gewisser Weise zur ersten Suffragette werden, während sich Hubert Schlemmers Bennet mit der Klassenherrschaft abgefunden hat und seine Töchter nur als Last empfindet.
Das Stück endet mit einem längeren Video-Interview mit der Philosophin Eva von Redecker, das man zumindest hätte kürzen können. So entstand am Schluss der Eindruck, als wolle man die Aussage des Stückes einem Publikum, dass diese revueartige Szenenfolge vielleicht nicht richtig verstanden habe, noch einmal erklären. Zwar durchaus zutreffend, aber auch ein wenig belehrend wirken da von Redeckers Ausführungen über Verdinglichung, Entrechtung und Unterdrückung der Frauen, die auch heute noch in mehr oder weniger deutlichen Ansätzen zu erkennen seien. Man sollte dem Theaterpublikum mehr intellektuelle Einsichten zutrauen, selbst, wenn die Handlung die Aussagen nicht ganz so schlüssig wie bei Brechts Lehrstücken vermittelt. Hier wäre weiniger mehr gewesen.
Dennoch ist diese Inszenierung über weite Strecken als gelungen und beeindruckend zu werten, wobei neben der intelligenten Konzeption und Regie vor allem das engagiert aufspielende Ensemble zu nennen ist.
Viel Beifall vom Premierenpublikum.
Frank Raudszus
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