Der französische Soziologe und Autor Édouard Louis, Jahrgang 1992, beschäftigt sich in seinen Büchern mit der aus seiner Sicht ausweglosen Lage der prekären Unterschicht, wobei er bewusst den Klassenbegriff nutzt. Er ist nicht nur Freund sondern auch Gesinnungsgenosse von Didier Eribon – „Rückkehr nach Reims“ – und hat sich wie dieser selbst aus kleinsten Arbeiterverhältnissen herausgearbeitet und als einer der führenden Intellektuelle Frankreichs etabliert. Sein Buch „Freiheit einer Frau“ ist eine Hommage an seine Mutter, die selbst in einem prekären Haushalt aufwuchs und fast zwangsläufig diesen Lebensentwurf fortsetzte. Ein gewalttätiger Mann ohne Ausbildung, ungewollte Kinder und finanzielle Perspektivlosigkeit prägten ihr Leben. Édouard selbst konnte sich trotz heftigsten Mobbings wegen seiner homosexuellen Veranlagung über das Gymnasium und ein Soziologiestudium aus diesem Sumpf befreien und widerlegte damit die eigene Aussage, dass ein Entrinnen unmöglich sei; dennoch formuliert er sein Buch über seine Mutter nicht zu Unrecht als Anklage an die Gesellschaft, denn gerade für Frauen mit Kindern ist eine solche Selbstbefreiung viel schwieriger.
Das Staatstheater Wiesbaden hat die Bühnenversion dieses Buches des Regisseurs Falk Richter sowie dessen Hamburger Inszenierung übernommen und präsentiert sie dem Publikum in wenigen Aufführungen während des ersten Halbjahres 2025. Das vorhanglose Bühnenbild von Katrin Hoffmann verweist bereits im noch nicht aktivierten Modus auf einen „Bruder im Geiste“ Falk Richters, den langjährigen Intendanten der Berliner Volksbühne Frank Castorf, der die Videotechnik als erster und gleich intensiv auf die Bühne brachte. Mehrere Bildschirme verschiedener Größenordnungen umgeben eine bühnenmittig angeordnete weiße Treppenkonstruktion, die oben von einer überdimensionierten Männerfaust gekrönt wird – Symbol für die männliche Gewalt im Hause.
Der Schauspieler Lennart Preining erscheint als der Sohn-Autor auf der Bühne und präsentiert das Leben „seiner“ Mutter in einem szenisch bebilderten Monolog. Dabei spricht er seine Mutter als gereifte Frau in Gestalt der Schauspielerin Eva Mattes an, die sozusagen sein Buch über sie aus seinem Mund kennenlernt.
Sandrine Zenner spielt seine Mutter als Rückblenden der Erzählung in Bühnen- und Videoszenen, wobei letztere – wie früher bei Castorf – „live“ aus dem Bühnenrückraum kommen. Dabei kommt es dann auch absichtsvoll vor, dass die Ensemblemitglieder gleitend die Räume wechseln, also optisch verfolgbar vom Video auf die Bühne und umgekehrt wechseln. Dabei entwickeln die Videosequenzen wegen der Großaufnahmen und der Tonverstärkung natürlich eine ganz andere Präsenz als die normalen Bühnenszenen. Man hätte diese Videoszenen natürlich genauso gut und ohne jegliche Interferenzen in die Bühnenhandlung integrieren können, doch offensichtlich bevorzugt auch Falk Richter wie einstmals Castorf die plakative Wirkung der Videoszenen. Das kann man nachvollziehen, doch es besteht stets die Gefahr des Selbstzwecks, der nicht mehr der Aussage des Stücks sondern nur seiner eigenen Wirkung dient. Dieser Gefahr entgeht auch Falk Richters Inszenierung nicht, doch dem Gesamteindruck des Stückes tut es glücklicherweise keinen Abbruch.
Sandrine Zenner ist dabei eindeutig die wichtigste Darstellerin in dieser Inszenierung, und sie beeindruckt durch ein ausgesprochen intensives Spiel, mit dem sie einerseits die Verzweiflung, andererseits aber auch die Stärke dieser Frau zum Ausdruck bringt, die trotz äußerst prekärer Lebensumstände und der nicht nur latenten Gewalttätigkeit ihres Mannes nie die Nerven verliert und sogar einen Rest von Humor behält. Diesen lebenserhaltenden Humor präsentiert sie allerdings nicht plakativ durch flache Witze, sondern eher versteckt durch ihre Mimik und Gestik, und bewahrt sich mit dieser Haltung, die man nicht Galgenhumor nennen möchte, einen Rest selbstbestimmten Lebens. Erst wenn sie ihren Mann aus dem Haus wirft, bricht sich ihrer Wut freie Bahn.
Die Geschichte wird gerahmt durch eine weibliche Rock-Band im Punk-Outfit, die das Leben von Édouards Mutter mit harten Rhythmen intoniert und kommentiert. Dass kein Mann in dieser Band mitspielt, ist natürlich als nachvollziehbare feministische Botschaft zu verstehen.
Lennart Preining spielt den Édouard bewusst als einen dem Prekariat entronnenen Intellektuellen, der einerseits an seiner Mutter und damit auch an ihrem Lebensinhalt hängt, sich aber andererseits davon distanzieren will und muss. Eine „Rückkehr nach Reims“ im Sinne einer vollständigen Solidarität gibt es nicht mehr, und darunter leidet der Autor – in der Realität und im Stück – sichtbar. Die Rettung seiner Mutter aus dem Milieu ist also auch eine Art Selbstheilung, denn erst in einer anderen, „heilen“ Lebensumgebung kann er ihr wieder näher sein. Und so bietet dieses Stück im Gegensatz zum fast resignierenden Ton von Didier Eribons Buch am Ende ein Stück Optimismus, ja: fast ein „Happy End“, obwohl Sohn und Publikum zweifeln, ob es der Mutter an der Seite des neuen Mannes besser gehen wird.
Diese Inszenierung behandelt in über zweieinhalb Stunden ein brisantes gesellschaftliches Thema, nämlich die sich nicht öffnende Falle des Prekariats, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit schonungslosem Blick auf die etablierte Gesellschaft, hier in Gestalt einer alten Freundin der Mutter, die sich kurzfristig in ihrer eigenen Not von ihr trösten lässt, aber mit ihrem Lebensumfeld nichts zu tun haben will. Der Autor als Sohn – oder umgekehrt – hält der Gesellschaft ihr Versagen gegenüber solchen Verhältnissen vor, allerdings ohne zu sagen, wie man es besser machen könnte. Aber das ist auch nicht die Aufgabe dieses Stücks.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete kräftigen, lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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