Es herrscht Krieg, aber noch außerhalb der eigenen Grenzen. Die saturierte Gesellschaft geht ihren eigenen Interessen nach und spricht über den fernen Krieg im Salon der Reichen und Schönen höchstens nach dem Motto „Wenn hinten, weit in der Türkei…“.
Wer in diesen Worten eine Beschreibung der aktuellen Gegenwart vermutet, irrt: hier geht es um Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“, den Martin Laberenz am Staatstheater Darmstadt nach einer Neuübersetzung von Barbara Conrad inszeniert hat.
Nun stellt dieser Roman ein Jahrhundertwerk im wörtlichen wie im übertragenen Sinne dar, beschäftigt er sich doch mit der Ausdehnung der napoleonischen Kriege nach Russland und dem dortigen Scheitern der Franzosen aus russischer Sicht. Drei Stichworte, die aktueller nicht sein könnten, spielen hier eine Rolle: Russland, Europa und Krieg. Der Verfasser dieser Zeilen hatte sich bereits im vergangenen Jahr darüber gewundert, dass die Theaterlandschaft diese die Öffentlichkeit der letzten zwei Jahre bewegenden Stichworte zugunsten verschiedener „woker“ Themen geradezu ignoriert hatte. Hier ist nun die Antwort des Staatstheaters Darmstadt, und sie ist zumindest konsequent. In nur sieben Wochen Proben wurde diese fast schon monumental zu nennende Herausforderung angenommen und umgesetzt.
Der zugrundeliegende Roman besteht aus vier Büchern und erstreckt sich über einen Zeitraum von nahezu zehn Jahren. Dabei portraitiert er vier große russische Adelsfamilien – andere Stände spielten damals keine Rolle – aus St. Petersburg und Moskau sowie ihre gesellschaftlichen, finanziellen und intimen Verflechtungen untereinander. Dabei entsteht ein facettenreiches Panorama einer sich auf einem Höhepunkt wähnenden Adelsschicht, die fehlende bürgerliche und ökonomische Herausforderungen durch ausschweifende Feste und andere gesellschaftliche Rituale ersetzt. Tolstoj zeichnet in dem weit ausladenden Epos die intellektuelle und ethische Situation einer Gesellschaft kurz vor dem Abstieg in all ihren Verästelungen nach und übt dabei keine Nachsicht. Dabei lässt er seine Figuren sprechen und verzichtet auf auktoriale Urteile.
Der zweite Bereich sind die militärischen Ereignisse, die Tolstoj nicht nur aus taktischer und strategischer Perspektive durch die Augen seiner männlichen Figuren beschreibt, sondern deren Ursachen und Konsequenzen er auch deutlich herausarbeitet. Siege Napoleons sind dabei oft der Arroganz und Inkompetenz russischer Heerführer geschuldet, und andererseits werden taktische Rückzüge von der auf Helden erpichten Gesellschaft schnell als Feigheit denunziert.
Wie bringt man diese epische Mischung aus persönlichen, sozio-ökonomischen, militärischen und moralischen Handlungssträngen auf die Bühne, selbst, wenn man eine Aufführungsdauer von vier Stunden wie in Darmstadt veranschlagt? Man wird sich auf Szenen beschränken müssen, wobei der erzählerische Zusammenhang soweit möglich gesichert sein sollte. Doch das ist aus verschiedenen Gründen recht schwierig. Aus praktischen Gründen muss man das reichhaltige Personentableau auf eine begrenztes Ensemble verteilen, was zu Doppelbesetzungen in kurzen Abständen führt und die Verständlichkeit nicht gerade erhöht. Man muss außerdem auf die epische Entwicklung der tiefschürfenden Er- und Bekenntnisse weitgehend verzichten und letztere dann ohne den zwingenden Hintergrund proklamieren. Die Alternative eines nur novellenartigen Ausschnitts des ganzen Romans wäre auch nicht befriedigend.
Vor diesem Problem stand Regisseur Martin Laberenz, und er löst es konsequent durch abstrahierende Auslassungen. Das Bühnenbild verzichtet auf jegliches Zeitkolorit und besteht nur aus drei bühnenhohen roten Leinenwänden, die man als Blutsymbol deuten kann, aber nicht muss. Den benötigten historischen Hintergrund für dieses zeitgebundene Stück liefern die Kostüme im Stil des 19. Jahrhunderts ohne Garantie der zeitlichen Exaktheit. Die Rollenbesetzungen erfolgen von vornherein pauschal, indem das Programmheft nur die Namen der acht Ensemblemitglieder ausweist. Sie stehen alle für die Realisierung des umfangreichen Romanpersonals, und es ist die nicht immer einfache Aufgabe des Publikums, die schnellen Rollenwechsel nachzuvollziehen. Doch da es auf die individuelle Geschichte einer Figur in dieser Bühnenfassung im Gegensatz zum Roman nicht ankommt, spielt das nur ein untergeordnete Rolle.
So kulminiert diese Inszenierung letztlich in den seelisch-moralischen Bekenntnissen der Protagonisten, die diese aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und vor allem aus den Kriegserlebnissen gewinnen. Ein Andrej, der anfangs aus Langeweile auszieht, um auf dem Schlachtfeld Ruhm und Ehre zu gewinnen, stirbt nicht zuletzt an seiner Verzweiflung über die Sinnlosigkeit, oder ein Pjotr besinnt sich aus ähnlichen Gründen auf ein einfaches, ehrliches Leben. Hier scheint immer wieder die Sehnsucht der russischen Dichter des 19. Jahrhunderts durch, mit sich und der Welt im Reinen zu sein.
Laberenz muss sich aus Zeitgründen auf die zentralen Personen und deren wichtigste menschlich-geistige Stationen beschränken, und das tut er konsequent. Die Folge, dass die mit viel Pathos proklamierten Erkenntnisse einen plakativen Charakter gewinnen, muss er dabei in Kauf nehmen, denn das Publikum kann all die vorangehenden Leidensmomente nicht miterleben. Das Wissen um die Hintergründe mag da kompensatorisch wirken, kann aber die mitfühlenden Emotionen nur begrenzt ersetzten.
Wenn man jedoch das individuelle Mitleiden mit den Romanfiguren einmal zugunsten einer allgemeinen Erkenntnis hintansetzt, dann fügen sich die Puzzleteile dieser Inszenierung zusammen. Ob zu Krieg, Gesellschaft oder Eros: die Opfer und Täter in diesem Bedeutungskreis äußern ihre Ansichten und Erkenntnisse zu bestimmten Zeitpunkten und ändern sie entsprechend ihren Erfahrungen. Hier gerinnt Tolstojs Lebenserfahrungen zu allgemeinen Sätzen, die jeder unterschreiben kann und die auf der Bühne ihre Wirkung zeigen. Dabei verblüfft immer wieder die geradezu erschreckende Aktualität der Bühnenworte. Wenn Karin Klein als Napoleon über Krieg und militärische Stärke raisonniert, dann sieht man Putin vor sich, und die Augenwischerei und Bagatellisierung der Kriegsgefahr in der Adelsgesellschaft weckt ähnliche Assoziationen. In der Premiere gab es an verschiedenen solchen Stellen spontanen Applaus.
Das Ensemble beeindruckt ohne Ausnahme durch besonders intensives Spiel, als wüssten alle, dass es um uns und nicht das Russland von 1805 oder 1812 geht. Sebastian Schulz spielt – neben anderen Nebenrollen – einen so ambivalenten wie konsequenten Andrej. Ihm zur Seite gibt Aaron Eichhorn vorrangig den Pjotr bzw. Pierre als unbedarften weil naiven Westler, der sich später läutert, aber auch einen gedemütigten Dolochow. Karin Klein spielt neben Bonaparte noch Frauenrollen der russischen Gesellschaft, Jörg Zirnstein ist mal Andrejs pedantisch strenger Vater, dann wieder General Kutusow, und auch mal ein Sterbender. Laura Eichten und Birte Schnöink teilen sich die diversen jungen, heirats(un)willigen Damen der Gesellschaft, und Niklas Herzberg sowie Sebastian Graf decken das männliche Umfeld von Andrej und Pierre ab. Insgesamt liefert dieses Ensemble eine ausgesprochen intensive Leistung ab, die keinen Augenblick Langeweile aufkommen lässt. Man lebt von Szene zu Szene mit, und wenn man dem gesamten politisch-militärischen Komplex dahinter nicht ganz folgen kann, ist das auch nicht schlimm, denn hier geht es in erster Linie um die Menschen.
Das Premierenpublikum zeigte sich ausgesprochen angetan und spendete anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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