Die noch während der Uraufführung von „Oper Otze Axt“ des Kollektivs „Dritte Degeneration Ost“ im Staatstheater Darmstadt aufgekommene Idee des Rezensenten, die Initialen des Titels durch zirkuläres Verschieben im Alphabet auf die Abkürzung „DDR“ zurückzuführen, scheiterte leider an den syntaktischen Tatsachen. Der Gag wäre auch als Zufall zu schön gewesen und als Absicht zu platt.
Das oben genannte Kollektiv hat es sich mit diesem musikalischen Schauspiel – der Begriff „Oper“ scheint uns trotz des Titels nicht passend – zum Ziel gesetzt, dem Leben des Punks, Musikers und Außenseiters Dieter „Otze“ Ehrlich in der DDR der achtziger Jahre ein authentisches Denkmal zu setzen. Dabei setzt sich das Kollektiv souverän über jegliche vermeintliche Genre-Grenzen hinweg und verbindet klassisch anmutende Gesangsnummern mit moderner, in einem Grenzgebiet zwischen dramatischer Opernmusik und modernen Punk-Klängen angesiedelten Live-Musik. Eine Kammerversion des Staatsorchesters intoniert unter der Leitung von Neil Valenta die Kompositionen von Mathias Baresel, Frieda Gawenda und Richard Grimm im Rückraum der engen Kammerspielbühne, und ein fünfstimmiger Chor ist – wie in der griechischen Tragödie – für die Kommentare zuständig, so dass für die eigentliche Handlung nur der schmale Raum im Vordergrund bleibt. Das tut der Inszenierung unter der Regie von Romy Dins und Frithjof Gawenda jedoch keinen Abbruch, da dieses Stück fast schon expressionistisch auf die Person „Otze“ und deren innere Befindlichkeit zugeschnitten ist. Die anderen Figuren erscheinen folgerichtig nicht als individuelle Charaktere mit Namen sondern als Archetypen mit Bezeichnungen wie „[Stasi-]IM“ (Antonia Alessia Virginia Beeskow), „Schläger“(Georg Festl), „Magier“(Clara Kreuzkamp) oder „Schatten“(Johann Kalvelage). Die Handlung verzichtet auf nachvollziehbare Erzählstränge und bezieht sich nur auf wenige bedeutsame Ereignisse, die nicht szenisch nachgestellt sondern im Sinne des klassischen Botenberichts sängerisch vorgetragen werden.
Gleich das erste Bühnenbild des Kasseler RHO-Kollektivs weckt Assoziationen an Käfighaltung. Drei große Gitter-Konstrukte füllen den Bühnenvordergrund, und während im rechten Käfig die Sound-Designerin im Punk-Outfit offen ihrer Arbeit nachgeht, liegt Otze im mittleren Käfig, der sich schnell als Zelle eines DDR-Gefängnisses entpuppt, allerdings ohne jeglichen plakativen Verweis. Man sollte das Programmheft zumindest diagonal gelesen haben, denn dieses Stücks führt keinen politischen Diskurs über die Realität des sozialistischen Totalitarismus, sondern begibt sich direkt in das Innenleben des Opfers. Mathias Baresel als „Otze“ hat denn auch nicht viel mehr zu tun, als die Ohnmacht und den Freiheitsdrang seiner Figur in Mimik, Gestik und Worte zu kleiden. Letztere kommen jedoch nicht als rationale Rede, sondern in Gestalt von Aufschreien daher. Hier geht es um einen jungen Mann, der nicht aus ideologischen Gründen gegen die allgegenwärtige Staatsmacht rebellierte, sondern aus ganz eigener Verzweiflung. Denn schon sein Vater, hier wortlos dargestellt von Martin Gernhardt, hat sich nie um seinen Sohn gekümmert und ihm damit keinen Halt vermitteln können. Diesen fand „Otze“ am Schlagzeug seiner Punk-Band, an dem Mathias Baresel sich denn auch in seiner Zelle heftig abreagiert.
Otzes Umfeld mit den erwähnten Archetypen und dem Chor lässt die einzelnen historischen Stationen wir Verhaftung, Mauerfall und Wiedervereinigung mit den jeweiligen „Begründungen“ bzw. sarkastischen Kommentaren Revue passieren und markiert so die Lebensbahn der Hauptperson. Dass auch noch die Axt zu schauerlichem Einsatz kommt, ahnt man, ohne es durch die Tür zu sehen. Die Regie erlag nicht der Versuch, das fleischliche Grauen auf offener Bühne zu zeigen, und zeigt damit Stärke durch Beschränkung.
Die Musik trägt in dieser Inszenierung wesentlich zum stimmigen Gesamteindruck bei, gerade weil sie nicht der Verlockung harter Punk- und Rockmusik folgt, sondern harten Pop-Rock mit Klangfolgen zu mischen versteht, die auch ohne großes (Streich-)Orchester in ihrer soghaften Wirkung durchaus an Wagner oder Mahler erinnern. Dass die Elektronik bei diesen Klängen eine nicht geringe Rolle spielt, liegt auf der Hand, doch dominieren diese künstlichen Klänge deshalb nie als solche, sondern bilden mit dem Orchester ein stimmiges Ganzes. Dabei gelingt es dem so heterogenen Musikensemble, die Stimmung von Ohnmacht, Obstruktion und Aufschrei glaubwürdig und überzeugend zu entfalten. Als Zuhörer fühlt man sich in diese Welt der Unterdrückung hineingezogen und erleidet auch ohne szenische Erklärungen des politischen Kontextes die Leiden des jungen „Otze“ mit. Bis zum Schluss dieses eineinhalbstündigen Werkes kommt keinen Augenblick Unverständnis oder gar Langeweile auf.
Eine gelungene Produktion des RHO-Kollektivs und des Ensembles des Staatstheaters Darmstadt. So sah es auch das Premierenpublikum, das kräftigen bis begeisterten Beifall spendete.
Frank Raudszus
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