Moderne Musik im Wandel der Zeit

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Wie schnell sich im Laufe der letzten Jahrhunderte die Musik entwickelt hat, lässt sich an einem einfachen Gedankenspiel zeigen: man stelle sich ein Sinfoniekonzert im Jahr 1925 vor, das Werke von Beethoven, Schumann und Brahms präsentiert. Hätte das Publikum mehrheitlich von „ziemlich moderner“ Musik gesprochen, ob nun anerkennend oder skeptisch? Ganz anders heute, da das Orchester des Staatstheaters Darmstadt im 4. Sinfoniekonzert unter der Leitung von GMD Daniel Cohen Ravel, Schönberg und Boulez spielte. In Pausengesprächen konnte man eben diese Tonfall vermehrt vernehmen. Das ist nicht abträglich gemeint – weder von den Redenden noch vom Rezensenten – aber aufschlussreich. Mit der Ausreizung und schließlich Überschreitung des herkömmlichen diatonischen Harmoniemodells hat das Hörvermögen auch eines zwar aufgeschlossenen, aber auf angenehmen Hörgenuss erpichten Publikums nicht mithalten können, was man natürlich sowohl der Musik als auch dem Publikum ankreiden könnte. Darauf wollen wir hier aber verzichten und nur auf dieses Phänomen hinweisen.

Die Pianistin Elisabeth Brauß

Am Anfang des Programms stand Maurice Ravels um 1910 entstandene „Daphnis und Cloé Suite Nr. 2“. Der erste Satz „Lever du jour“ beginnt mit einer wellenartigen Bewegung, die fließendes oder sanft anbrandendes Wasser darstellen könnte, und die in ein sanftes Strahlen übergeht, damit den Titel des Satzes programmatisch umsetzend. Man sieht in Gedanken die Sonne langsam aufgehen. Die Celli geben eine sanfte Melodie vor, eine einzelne Klarinette steigt ein, und nach einer kurzen Fermate entfalten die Föten ein quirliges Vogelgezwitscher. Im zweiten Satz, „Pantomime“ übertitelt, ertönt zuerst ein getragenes Flötensolo, das dann mit einem kräftigen orchestralen Aufschwung endet, der schließlich in ein ausladendes Orchester-Tutti übergeht. Der „Danse générale“ des Finalsatzes bietet dann lebhafte und kontrastreiche Passagen mit markanten Einsätzen des Schlagwerkes und viel Witz und Schärfe. Daniel Cohen gelang es, die ganz eigene, fast noch spätromantisch-melancholische Grundstimmung dieser Musik herauszuarbeiten, wobei diese Melancholie nicht als lebensfremde Wehmut sondern als intensive Introvertiertheit daherkommt.

Im Anschluss daran spielte Elisabeth Brauß, die Solistin des letzten Kammerkonzertes, Ravels Klavierkonzert in G-Dur, das originellerweise mit dem scharfen Klicken eines Holzschlagwerkes beginnt. In den Tasten des Flügels beginnt es zu flirren, die Trompeten setzen ein, und das Klavier präsentiert eine nachdenkliche Melodielinie, die Elisabeth Brauß ausdrucksstark intonierte. Immer wieder scheinen jazz-artige, on Ravel bewusst eingebrachte Klänge auf, dann folgt das bekannte absteigende Motiv, das wiederum in schnelle, Stakkato-Passagen übergeht. Der zweite Satz beginnt mit einem langsamen Thema im 3/4-Takt, das die Solistin schwebend und fast zweifelnd, sich zurücknehmend vortrug. Flöten und Orchester übernehmen, um dann wieder an das Klavier für einen langen, getragenen Lauf zu übergeben. Der Finalsatz beginnt furios am Klavier und fordert noch einmal alles technische Können der Solistin, die diese Herausforderung mit Verve und Spielfreude meisterte. Überhaupt war auch hier wieder – wie im Kammerkonzert – die Lust der Solistin am Spiel fast körperlich spürbar, und es gelang ihr damit, diese Freue am Spiel in gesteigerte Aufmerksamkeit beim Publikum umzusetzen. Nach mehr als kräftigem und langem Beifall spendierte sie noch eine ungewöhnliche Zugabe in Gestalt von George Gershwins „I got Rhythm“.

Der zweite Teil schritt dann weiter in die Moderne hinein. Zuerst das jüngste Werk: Pierre Boulez´ „Livres pour cordes“ aus dem Jahr 1968 bzw. 1989, das Daniel Cohen noch zu einem kurzen Vortrag über seine Zeit als Student und Assistent des Komponisten nutzte. Hier tut sich eine neue, zwar nicht im strengen Sinn atonale, aber auch nicht mehr herkömmlich tonale musikalische Welt auf. Wenn man der Vorstellung zustimmt, dass Musik Emotionen freisetzt, dann werden hier nicht (mehr) „angenehme, heitere Empfindungen“(Zitat) geweckt, sondern tiefere Schichten der menschlichen Emotionsstruktur aktiviert, die begrifflich nur schwer zu fassen sind. Keine Themen im Liedsinne mehr, sondern nur kurze, permanent über die Instrumentengruppen miteinander verschränkte Motive. Die nahezu ostinate Wiederkehr erzeugt dabei einen Klangteppich mit betörender Wirkung. Als ehemaliger Schüler des diesjährigen Jubilars – hundertster Geburtstag – war Daniel Cohen prädestiniert, diese Musik einfühlsam und mit dem richtigen Maß zu interpretieren.

Kaum war dieses moderne Werk verdaut, ging es zwar dreißig Jahre zurück, aber deswegen noch lange nicht in die Spätromantik. Arnold Schönbergs „Kammersinfonie Nr. 1 op. 9b“ steht zwar in E-Dur, aber das entspricht nicht den Vorstellungen eines in der herkömmlichen Harmoniewelt sozialisierten Zuhörers. Während die ersten Takte noch wie eine klassische Auflösung Dominante-Tonika klingen, verliert sich diese Harmonik in der Folge sehr schnell und geht in eine Folge von musikalischen Figuren nach eigenen tonalen Vorstellungen über. Ungewohnte Ganztonreihen und andere ungewohnte Effekte spielen dabei ebenso mit wie der Verzicht auf klar unterschiedene Satzstrukturen wie etwa „Allegro, Andante, Rondo“, Dynamische Elemente wie „Forte“ und „Ritardando“ spielen wichtige Rollen, die Intensität ist hoch, und immer wieder schimmern kurze Verweise auf den – verehrten – Gustav Mahler durch. Die einzelnen Elemente, hier nicht als Sätze im herkömmlichen Sinn, sondern nur als Tempobezeichnungen aufgeführt, sind fließend miteinander verbunden und kaum eigenständige Gebilde, doch lassen sich mitunter Anklänge etwa an ein „Adagio“ ausmachen. Ein weiteres Merkmal sind die bewussten Dissonanzen, die man heute vom Jazz kennt, nicht aber von der klassischen oder romantischen Musik. Hat man sich jedoch einmal daran gewöhnt, entwickeln sie beim Hören ganz eigene Wirkungen, die man – wie bei Boulez – nicht in einfache Begriffe fassen kann. Und das ist vielleicht das Wichtigste an der Musik, dass sie das Gefühlsgebäude der Zuhörer um Unbekanntes erweitert.

Daniel Cohen und dem Orchester des Staatstheaters gelang es, dieses Unbekannte durch die hohe Intensität der Darbietung erlebbar zu machen.

Das Publikum dankte Orchester und Dirigent mit lang anhaltendem Beifall und bewies damit, dass auch die Musik des 20.(!) Jahrhunderts beim Publikum angekommen ist. Und was ist mit der zeitgenössischen Musik?

Frank Raudszus

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