David Wagner: „Verkin“

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In seinem Roman „Verkin“ entführt uns David Wagner auf eine Reise nach Istanbul und durch die Türkei, immer auf den Spuren der früheren armenischen Bevölkerungsgruppe.

Ich habe viel gelernt aus diesem Buch, denn es gibt einen sehr guten, wenn auch ganz persönlichen Einblick in die Geschichte der Armenier in der Türkei, über die Verfolgung und Vertreibung von 1915, über die damaligen Überlebensstrategien und über das heutige Leben der armenischstämmigen Menschen in der Türkei, das noch immer von offener oder unterschwelliger Diskriminierung und Ausgrenzung geprägt ist, besonders wenn man wenig Geld hat.

Der Erzähler David lernt auf einer Party in Berlin die erfolgreiche Geschäftsfrau Verkin kennen. Sie ist Türkin mit armenischen Wurzeln. Sie hat offenbar eine Vankatze nach Berlin geschmuggelt. Was ist eine Vankatze? Also habe ich gegoogelt: Das ist eine weiße Langhaarkatze mit rot-weiß-geringeltem Schwanz und meist verschiedenfarbigen Augen, die vom türkischen Vansee stammt. Und wo liegt der? Diesmal gibt Google Maps die Antwort: Der Vansee liegt in Südost-Anatolien, dem früheren armenischen Siedlungsgebiet.

David recherchiert für eine Reportage über die berühmten türkischen Shopping-Malls und reist deshalb mehrfach nach Istanbul. Da er von Verkin so fasziniert ist, besucht er sie jedes Mal und erfährt viele Details über ihr bewegtes Leben. Sie zeigt ihm auf mehreren Trips verschiedene Gegenden der Türkei, die dem durchschnittlichen Antalya-Türkei-Touristen verborgen bleiben.

Verkins Vater hat mit den unterschiedlichsten Geschäftsideen sehr viel Geld verdient, hat Häuser an den schönsten Plätzen von Istanbul gebaut, aber auch auf einer kleinen, nahezu unbekannten Insel im Mittelmeer, nahe der Insel Kekova. Der Reichtum gab ihm die Möglichkeit, sich durch üppige Geldzuwendungen vor Diskriminierung zu schützen. Aber auch das klappte nicht immer, zwischenzeitlich saß er im Gefängnis, verlor das eine oder andere Haus, kam aber immer wieder materiell auf die Füße. So konnte er seine Tochter in ein teures Internat in der Schweiz schicken, sie konnte in Großbritannien studieren, in die USA reisen und zu einer weltoffenen, sehr gebildeten Frau werden, die schließlich das Geschäft des Vaters übernimmt und erfolgreich weiterführt. Sie ist mit allen Wassern gewaschen und kann mit den härtesten Männern verhandeln.

Das alles erfahren wir aus den Gesprächen zwischen Verkin und David. Aus einer Frage seinerseits ergeben sich immer neue Erzählanlässe für Verkin, und zwar sowohl aus ihrem sehr bewegten Liebesleben – sie hat es zu mehreren Ehemännern gebracht, unter anderem einem Deutschen – als auch aus ihren gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen. Ihr großer Freiheitsdrang steht jedoch immer wieder einer dauerhaften festen Bindung entgegen, wenn sie auch zu allen ihren Verflossenen, sofern sie nicht inzwischen verstorben sind, noch in gutem Kontakt steht.

Verkin ist der Typ der unabhängigen modernen Frau, die gewöhnt ist, sich auf großem Parkett zu bewegen, die in ihrem Leben vielen Größen des kulturellen wie auch politischen Lebens begegnet ist.

Umso erstaunlicher ist es für David wie auch für die Leserin, mit welcher Leidenschaft sie Erdogan und sein Regime verteidigt. Er habe das Land vorangebracht, Wirtschaft und Infrastruktur modernisiert und der Türkei einen anerkannten Platz in der internationalen Politik verschafft. Die Islamisierung des Lebens, die fragwürdige Rolle, die den Frauen dabei zugewiesen wird, ist nicht ihr Thema. Sie sieht ein erfolgreiches Leben als das Ergebnis der eigenen Initiative, sich mit widrigen Umständen auseinanderzusetzen und für sich den besten Weg zu finden.

Verkin hat kein Problem mit ihrer privilegierten materiellen Situation, ist diese für sie doch die Voraussetzung für ihr Engagement für die armenische Sache. Wichtig ist ihr, die Erinnerung wach zu halten und davon David und damit den Lesern und Leserinnen so viel wie möglich weiterzugeben.

Der Roman hat keine lineare Struktur, vielmehr reihen sich sie verschiedenen Episoden aus Verkins Leben wie zufällig aneinander. Das hat bisweilen etwas Atemloses, aber so zieht die Erzählung uns als Leser mit in den Strudel dieser bewegten Frau. Darauf verweist David Wagner mit seinem abgewandelten Zitat des Beginns der Odyssee als Motto:

„Sage mir Muse, die Taten der vielgewanderten Frau,

Welche so weit geirrt …“

Ich habe diesen Roman mit viel Freude gelesen. Er hat mir die Augen geöffnet für die landschaftliche Vielfalt und Schönheit der Türkei, aber  auch für die komplexen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen dieses Landes.

Der Roman verschafft große Lesefreude und gibt viele Anstöße, sich mehr mit diesem Land zu befassen.

Der Roman ist im Rowohlt Verlag erschienen. Das Buch hat 399 Seiten und kostet 26 Euro.

Elke Trost      

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