Der Roman „Der Ozean am Ende der Straße“ des britischen Autors Neil Gaiman beschreibt die Weltsicht eines kleinen Jungen mit großer Phantasie, der große Umbrüche im Familienkreise nicht verkraftet oder umdeutet und daran fast zerbricht. Die Rahmenhandlung lässt den Jungen als gealterten Mann an den Ort seiner Kindheit anlässlich der Beerdigung seiner damaligen Freundin zurückkehren, wobei die Erinnerungen an die damalige Zeit szenenhaft hochkommen. Das Staatstheater Darmstadt hat die Bühnenversion dieser Geschichte von Joel Horwood nun als deutschsprachige Erstaufführung unter der Regie von Katharina Schmidt in den Kammerspielen inszeniert.
So weit, so gut – könnte man sagen, doch auf der Bühne sehen die Dinge doch ganz anders aus als im Roman. Für das volle Verständnis dieses Stücks muss man den Roman kennen, da sich die Folge spontan assoziierter Erinnerungen sich dem Zuschauer sonst nur noch als emotionales Chaos präsentiert.
Der Roman besteht im Grunde genommen aus zwei Teilen: einem sozial-psychologischen mit der Phantasiewelt eines Kindes und dessen Misshandlung durch Erwachsene sowie einem phantastischen mit übelwollenden Aliens aus anderen Welten. Diese erscheinen in Gestalt einer bildhübschen Haushilfe in einer Familie mit zwei kleinen Kindern, deren Mutter aus beruflichen Gründen weggezogen ist. Natürlich geht der Vater (Stefan Schuster) mit der jungen Frau ein Verhältnis ein – oder umgekehrt -, und die junge Frau aus der anderen Welt misshandelt den störrischen kleinen Alex (Florian Donath), weil sie ihn als „Wirt“ benötigt und daher Macht über ihn ausüben muss. Der Vater will dem Jungen diese Misshandlungen natürlich nicht glauben und straft ihn um so schlimmer. Der Junge rettet sich zu einem etwas älteren Mädchen in der Nachbarschaft, und zusammen sitzen sie am Dorfteich „am Ende der Straße“, den die kleine Lettie (Aleksandra Kienitz) als ihren „Ozean“ verherrlicht.
Die Bühnenversion stand vor dem Problem, dass man Kinder unter zehn Jahren einerseits kaum von Gleichaltrigen spielen lassen kann, aber dass andererseits Erwachsenen diese Kinder nicht glaubwürdig darstellen können. Also hob man Alex´ Alter kurzerhand auf zwölf an. und die der anderen Kinder entsprechend. Damit ist jedoch auch die kindliche Naivität zum großen Teil nicht mehr gegeben, und die emotionalen Ausbrüche kommen wie pubertäre Proteste daher. Nebenbei ergibt sich noch das alte Problem, dass körperliche Übergriffe der Erziehungsberechtigten gegenüber einem ausgewachsenen Schauspieler sich nur schwer glaubwürdig als Kindesmisshandlung gestalten lassen.
Doch das sind die geringeren Probleme. Die wesentliche Schwäche dieser Inszenierung besteht darin, dass sie die Ablauflogik der oben geschilderten Geschichte auslässt und sich auf die szenenhafte Perspektive des Kindes aus der fernen Erinnerung des alternden Mannes beschränkt. Die Haushaltshilfe Ursula (Karin Klein) lernt man nicht als Geliebte des Vaters, sondern gesichtsloses blondes Wesen sowie in Gestalt gesichtsloser Strumpfmasken-Figuren (Statisterie) kennen, und der „Alien“-Bezug wird völlig ausgeblendet. Letzteres kann man zwar verstehen, da er ein wenig lächerlich wirkt, doch einzelne Szenen werden dann unverständlich, bis hin zum plötzlichen Verschwinden der kleinen Freundin, die eben auch in diese Alien-Handlung verwickelt ist.
Der anfängliche Selbstmord des Untermieters der Familie wird stellt zwar ein wichtiges Element dieser Inszenierung dar, doch der verschlungene Bezug zu der magischen „Alien“-Welt wird ebenfalls nicht weiter verfolgt, und dadurch werden andere Dinge wie seltsame Silbermünzen unverständlich.
Bleiben die verzweifelten Kämpfe des kleinen Jungen gegen seine Unterdrücker, deren Motive im Unklaren bleiben. Dabei nehmen diese emotionalen Ausbrüche eben wegen der fehlenden Erklärung für das Publikum zunehmend krankhafte Züge an, zumal die Schwester (Emily Klinge) hier eine zwischen schwesterlicher Fürsorge und pubertärer Genervtheit schwankende Halbwüchsige ist. Die Aggressivität des Vaters erklärt man sich durch Überlastung und nicht durch das Verhältnis mit der Haushaltshilfe, und mit zunehmender Spieldauer steigt zwangsläufig eine gewisse Identifikation mit der Familie. Das kann auch die Mutter (Hubert Schlemmer) der Freundin nicht ausgleichen, die hier als kühle Frau im Businesslook vertreten ist. Die Freundin Lettie selbst ist kein träumendes kleines Mädchen, sondern eine sehr pragmatische Halbwüchsige, die dem randalierenden Alex tätige psychologische Hilfe zukommen lässt.
So löst sich dieses Familienkonstrukt im Laufe der eineinhalbstündigen Aufführung in eine Folge extrem emotionaler Trotz- und Aggressionsszenen des gar nicht so kleinen Alex aus, während die Familie(n) um ihn herum ihn irgendwie zur Vernunft zu bringen versuchen. Die eigentliche – und fragwürdige – Botschaft des Romans kommt dann nicht mehr zu ihrem Recht. Man kann zu Recht den „Alien“-Bezug als Unfug betrachten, aber ohne diesen steht das Stück nur auf einem Bein, und das Gleiche gilt für das Weglassen der sexuellen Beziehung des Vaters zu der „Alien“-Frau, das wohl mit Blick auf eine jugendliche Zielgruppe erfolgte.
Für Jugendliche eignet sich dieses Stück wegen der undurchschaubaren und gleichzeitig aggressionsgesättigten Handlung weniger, und Erwachsene erkennen zwar die problematische Situation eines einsamen und misshandelten Kindes, nicht aber die Handlungszusammenhänge.
Das Ensemble versucht, aus diesem Torso noch das beste zu machen, und liefert zumindest das berührende Bild einer durch Aggression, Trotz und – ja! – Überlebenskampf geprägten Familie.
Das Premierenpublikum spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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