Der Historiker Peter Heather und der Ökonom John Rapley, Professoren am Londoner „King´s College“ bzw. der Universität Cambridge, haben sich in dem vorliegenden Buch die Aufgabe gestellt, die Gründe für das Ende des römischen Imperiums zu ermitteln und daraus Schlüsse hinsichtlich der Zukunft des „Westens“ – USA und Europa – zu ziehen. Denn sowohl die ökonomische als auch die politische Position der westlichen Welt ist spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich geschwächt.
Nun lassen sich das antike Rom und der moderne Westen nur bedingt vergleichen, weil ersteres ein durchorganisiertes, zentral gelenktes Reich war, während letztere einen Verbund von selbstständigen Nationen mit einem vergleichbaren Wertesystem darstellt. Doch wenn man die Zweiteilung des ehemals singulären Roms einerseits und Verbundsysteme wie EU und NATO andererseits berücksichtigt, ist eine solche Betrachtungsanalogie durchaus gerechtfertigt.
Neben der räumlichen Überdehnung sehen die beiden Autoren Roms Ende vor allem durch die Erstarkung der Ränder begründet. Die bewachte Grenze Roms – u.a. der Limes – erforderte große Mengen an Betriebsmaterial, das sich nicht allein aus der römischen Zentrale und auch nicht aus den grenznahen Provinzen beschaffen ließ. Damit ergaben sich für die Peripherie außerhalb der Grenze bedeutende wirtschaftliche Möglichkeiten, die auch entsprechend genutzt wurden. Der daraus folgende Aufschwung dieser externen Gebiet führte mittelfristig zu politischem Selbstbewusstsein und zunehmenden militärischen Fähigkeiten sowie zu deren Anwendung.
Dazu kam – auch damals schon! – die Migration, die sich aus der Vertreibung der Goten und Vandalen durch die von Osten vordringenden Hunnen ergab. Hier flüchteten nicht große Mengen von Einzelpersonen, sondern ganze Völkerschaften mit einer gewissen politischen Struktur, die sich wesentlich schwerer abweisen ließen und im Zweifelsfall auch bei militärischen Auseinandersetzung wegen der Überdehnung des römischen Reiches siegreich blieben. Die mit und ohne Verhandlungen sich schließlich in den ehemaligen römischen Provinzen – Gallien, Spanien – niederlassenden Völker entzogen Rom nicht nur Steuerzahlungen, sondern traten auch als Konkurrenten auf ökonomischem wie militärisch-politischem Gebiet auf und konfrontierten Rom mit zunehmenden militärischen Aufgaben bei abnehmenden Finanzen.
Ähnliches sehen die beiden Autoren – nach kurzen Analogie-Abstechern ins ehemals britische Empire – im heutigen Verhältnis des Westens zum „Rest der Welt“, wie man es noch vor wenigen Jahrzehnten auszudrücken pflegte. Nach der ersten Welle der offenkundigen Ausbeutung der Peripherie durch den Kolonialismus folgte eine zweite im 20. Jahrhundert durch die Auslagerung der Produktion in Billigländer. Das hatte letztlich den Aufstieg von Ländern wie China, Südkorea und Thailand zur Folge, während der Abstieg des Westens erst zeitversetzt erfolgte, da die höherwertigen Aufgaben der technologischen Entwicklung im Westen verblieben. Doch während die Peripherie auch hier aufholte – siehe Elektro-Autos -, erfolgte im Westen eine Polarisierung mit dem Abstieg der weniger qualifizierten Bevölkerungsgruppen aus der gut bezahlten Produktion in die schlecht bezahlten Dienstleistungen, während die wegen der ausgelagerten Produktion profitableren Unternehmen höhere Gehälter zahlen und ihren Börsenwert steigern konnten. Für die Autoren zeichnet sich deutlich ab, dass diese sozio-ökonomische Schere sich noch weiter öffnen und dringende Maßnahmen erfordern wird, um einen gesellschaftlichen Kollaps mit all seinen Folgen – Extremismus, Umstürze – zu verhindern.
Dabei haben die Regierungen des Westens aus ihrer Sicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Ein dauerhafter Zinssatz unterhalb der Inflation führt zu weiterer Geldentwertung und entsprechenden Reaktionen der zunehmenden Zahl der Unterstützungsempfänger – Rentner, Pensionäre – und Geringverdiener. Ähnliches gilt für generelle Erhöhungen von Mehrwert- und Einkommensteuer, die ebenfalls vor allem den wachsenden Anteil prekärer Einkommensgruppen trifft. Es wird daher aus der Sicht der Autoren nicht zu vermeiden sein, die reiche Minderheit – etwa die oberen 10 Prozent – mit Erhöhungen der Erbschafts- und Vermögenssteuer in die sozial-ökonomische Verantwortung zu ziehen, obwohl das rein rechtlich den Charakter von Enteignungen annimmt.
Auch mit Abschottungen durch Zölle oder quasi-militärische Abgrenzung wird der Westen nicht die ehemalige Dominanz im Sinne von „Make XYZ Great Again“ wiedergewinnen, weil diese nach Lage der Dinge faktisch längst verschwunden ist. Die Autoren sehen die einzige Chance für den Westen daran, die Aufsteiger der ehemaligen „dritten Welt“ als Partner auf Augenhöhe zu akzeptieren und gleichberechtigt Abkommen über den Welthandel zu schließen. Dann können die westlichen Ländern mit ihren strukturell komplizierteren demokratischen Entscheidungswegen ihre heutige Stellung auf längere Sicht halten und sich den autokratisch regierten Ländern anderer Kontinente als glaubwürdige Alternative präsentieren. Aufzwingen werden sie die westlichen Werte anderen Ländern nicht mehr können, weder mit ökonomischen noch mit militärischen Mitteln. Beide Autoren sehen durchaus gute Chancen für eine solche positive Entwicklung, aber eine Garantie möchten sie dafür angesichts der wachsenden extremen Ränder im Westen – bis hin zu Trump – auch nicht geben.
Die hier skizzierte Argumentation ist als „roter Faden“ durch das Buch zu verstehen, das die Hintergründe beider „Imperien“ sowohl historisch als auch sozio-ökonomisch noch viel detaillierter ausleuchtet und den Lesern einen umfassenden Einblick in das Thema vermittelt.
Das Buch ist im Verlag Klett-Cotta erschienen, umfasst 284 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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