Das Kindermärchen „Alice im Wunderland“ von Lewis Caroll entstand als spontane Erzählung für ein paar Kinder während einer Bootsfahrt. Daraus entwickelte der Autor die uns bekannte Geschichte des Mädchens, das unter sprechende Tiere geriet, die wiederum bereits auf sie als Retterin vor einer bösen Königin warteten. Im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten ist diese Geschichte zu einem Klassiker mit Kultstatus geworden, und die „Neue Bühne Darmstadt“, das seit Jahrzehnten etablierte freie Theater im Stadtteil Arheilgen, hat das Stück jetzt rechtzeitig zur Weihnachtszeit auf die Bühne gebracht.
Der Spielfläche inmitten des Zuschauerraums ist mit farbfreudigen Pflanzenmalereien und angedeuteten Felsen zu einer Märchenlandschaft umgewandelt worden, und hier schaukelt die noch kindliche Alice (Anna Baum) zu Beginn an einer echten Schaukel über einem Tisch. Langsam schälen sich in einem Selbstgespräch mit Erzählcharakter ihre Sorgen heraus. Ihre Mutter muss mit einer sehr ernsten Diagnose ins Krankenhaus, ihre begabte Schwester geht wieder zurück ins Internat, und die ungeliebte Stiefeltern übernehmen die Betreuung des einsamen Mädchens.
Angstvoll träumend gerät sie plötzlich in eine fremde Welt mit sprechenden Tieren und findet sich – plötzlich ganz klein – vor einer verschlossenen Tür, die sie dann aber mit einem wundersam gefundenen Schlüssel öffnen kann. Hinter dieser Tür begegnet sie den Bewohnern dieser anderen Welt, die größtenteils aus sprechenden Tieren, unter anderen eine „Grinsekatze“ und ein Kaninchen, besteht. Alle scheinen sie zu erwarten, als ob sie schon einmal dagewesen wäre, und erhoffen von ihr die Erlösung von einem großen Übel. Das tritt auch bald auf in Gestalt der „roten Königin“ (Nicole Klein), die zusammen mit ihrem ebenso brutalen Liebhaber (Jens Hommola) ein hartes Regiment über die Tiere ausübt. Die Tiere müssen sich für die Belustigung der Königin demütigen und misshandeln lassen, und wer nicht pariert, dem wird die Enthauptung angedroht. Die rote Königin hat ihre Schwester, die „weiße“ und eigentlich gute Königin (Vivien Pantea Seifert), entmachtet, und nur das von einem einäugigen Ungeheuer bewachte weiße Schwert kann das Tiervolk von der bösen Königin befreien. Ein so quirliger wie listiger Hutmacher (Mike Brendt) mit weiß geschminktem Gesicht und eleganten Bewegungen spielt eine zentrale Rolle, indem er immer wieder für die unterdrückten Tiere eintritt und Alice so manchen guten Rat gibt.
Alice ist schlau genug, der roten Königin ihren erlöserhaften Namen nicht zu verraten, und nennt sich spontan „Empora aus Empöringen“, damit ihre Rolle definierend. Nun geht es hin und her, und die rote Königin ahnt, dass ihr irgendwo Gefahr erwächst. Alice durchläuft gefahrvolle Augenblicke, jedoch jedes Mal rettet sie ein Einfall oder eines der sprechenden Tiere. Am Ende erlöst sie natürlich die geknechtete Gemeinschaft aus der Unterdrückung durch die rote Königin und kann erleichtert in ihre eigene Welt zurückkehren.
Natürlich ist dieses Stück mehr als nur ein wundersam magisches Spektakel für Kinder. Es spiegelt vielmehr das Innenleben des jungen Mädchen mit all seinen Ängsten und Sehnsüchten wider. Nicht umsonst spielen zwei gegensätzliche Schwestern eine wesentliche Rolle, und auch das böse Herrschaftspaar im Wunderland stellt eine Spiegelung der ungeliebten Stiefeltern dar. Regisseurin Renken hat das in ihrer detailreichen Inszenierung durch eindeutige Regieentscheidungen berücksichtigt. So spielt Nicole Klein sowohl Alices ungeliebte Stiefmutter als auch diese selbst, und überdies ähneln sich beide Kostüme farblich und im Stil. Und Jens Hommola spielt sowohl den grummeligen Stiefvater als auch den Liebhaber der Königin. Die sprechenden Tiere stellen die Zufluchtsorte dar, die Alice eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit geben. Sie sind durchweg – abgesehen vom schrecklichen Drachen – als gutmütige und aufmerksame Wesen angelegt, die mit den Ängsten ihrer Leidensgenossen gut umgehen können. Für die Zuschauer stellen sie mit ihren fantasievollen Kostümen immer wieder einen Blickfang dar und füllen die Spielfläche mit unverfälschtem Leben.
Das Ensemble spielt mit viel Herzblut und verleiht diesem magischen Märchen eine gehörige Portion Realitätssinn, wodurch der Kontakt zum alltäglichen Leben nie abreißt. Dadurch überschreitet es die Grenzen des reinen Märchens und macht die psychologischen wenn nicht sogar psychotherapeutischen Elemente dieses Stücks sicht- und fühlbar.
Kräftiger Applaus nach einem langen Abend.
Frank Raudszus
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