Bereits der Untertitel dieses Buches, „Überlebensräume der Zukunft“, verweist auf den latent dystopischen Charakter des Inhalts. Jean-Pierre Wils, dessen Bücher „Der große Riss“ und „Warum wir Trost brauchen“ wir hier bereits besprochen haben, verzichtet in dem vorliegenden Buch auf die herkömmliche nüchterne Sachlichkeit und „Neutralität“ – was immer das in Krisenzeiten bedeutet – des Wissenschaftlers und schlägt sich ganz bewusst auf die Seite des persönlichen Engagements. Seine Ausführungen sind eher ein Plädoyer – oder gar ein Pamphlet – für eine allgemeine „Zeitenwende“, die eher gestern als heute hätte einsetzen müssen.
Hintergrund seines Alarmes zur gegenwärtigen „conditio humana“ ist die Klimakrise, die für ihn nicht als Zukunftsdebakel droht, sondern bereits nahezu unumkehrbar als unmittelbare Bedrohung im Raume steht. Dabei hält er sich nicht mit (natur)wissenschaftlichen Erklärungen oder Deutungen auf, sondern steigt unmittelbar in die Folgen für die Lebensumstände der Menschheit ein. Eine wesentliche Rolle spielen dabei natürlich die gesellschaftspolitischen und – wenn man so will – philosophischen und soziologischen Ursachen. Dabei konzentriert er sich im Sinne von „vor der eigenen Haustüre kehren“ auf das westliche Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, sprich: den Kapitalismus. Dabei vermeidet er soweit möglich den Begriff der „freien“ oder gar „sozialen“ Marktwirtschaft zugunsten des alten sozialistischen Kampfbegriffs, wohl, weil das Wort „frei“ zu positive Konnotationen enthält.
Er beginnt mit dem Vorwurf einer weitgehenden Realitätsverleugnung, die außer einer vordergründigen Nachhaltigkeit und Klima-Betroffenheit weitestgehend in einem „weiter so“ besteht, sowohl was das ökonomische Wachstumsparadigma als auch die individuelle Selbstentfaltung betrifft. Das führt ihn dann zu dem Distinktionsbedürfnis des westlichen Bürgers, siehe Reckwitz´ „Singularitäten“, das sich letztlich in der Zurschaustellung von Luxus(gütern) äußere. Detailliert deutet er den Luxus als „das Notwendige übersteigend“, wobei er durchaus die Relativität des Notwendigen und damit des Luxus sieht. Als Beispiel führt er eine nahezu 200 Meter lange Luxusyacht an, die offensichtlich keinem praktischen Zweck mehr dient, sondern nur der Übertrumpfung der Konkurrenten. Dieses Beispiel ist zwar durchaus prägnant, es lässt aber außer Acht, dass solche Yachten meist (fast) ohne CO2-Ausstoß vor Anker oder an der Pier liegen, und dass der weltweit desaströse Schadstoff eben aus den Fahrzeugen und Heizungen einer Milliarden zählenden Weltbevölkerung stammt. Hier folgt auch ein Wils den ideologischen Spuren einer den Grund allen Übels in dem Egoismus einer (kapitalistischen) Elite sehenden Bewegung. Aufschlussreich ist dabei die Tatsache, dass der Begriff „Überbevölkerung“ in dem Buch kein einziges Mal fällt. Zwar lässt sich diese – glücklicherweise – nicht per Dekret beseitigen, aber als Problem erwähnen könnte man sie schon.
Folgerichtig kommt Wils dann auf den Freiheitsbegriff der westlichen Gesellschaften zu sprechen, der sich aus der Aufklärung und vor allem Kants Aufforderung zur Befreiung aus der Unmündigkeit ergibt. Demnach habe sich die unter den Paradigmen der Religion und des Feudalismus herrschende Kollektividee der Solidargemeinschaft sukzessive in eine maßlose Freiheitsidee des Individuum verkehrt, die möglichst nicht von Dritten oder einer (staatlichen) Gesellschaft eingeschränkt werden dürfe. Dass der „Kapitalismus“ darauf mit ungebremster Bedürfnisweckung reagierte, ergibt sich dann fast zwangsweise. Diese durchaus zutreffende Feststellung erweitert Wils dann zu dem kapitalistischen Dogma, dass die so geschaffenen Bedürfnisse nicht oder nur kurzfristig gestillt werden dürften, um damit den Konsumenten nicht ruhig zu stellen sondern ihm schon das nächste Bedürfnis zu suggerieren.
Das hört sich zwar nachvollziehbar an, doch unterstellt es, dass die Konsumenten grundsätzlich – und flächendeckend! – leicht manipulierbare und jeglicher Eigenverantwortung enthobene Marionetten seien. Wie viele – linke – Ideologen sieht auch Wils zumindest latent die Schuld bei dem anonymen „System“ des Kapitalismus und nicht zumindest teilweise bei den Konsumenten. Wils betont zwar immer wieder, dass „wir“ uns ändern und zum Beispiel Verzicht üben müssen, aber dieses „wir“ bleibt seltsam abstrakt. Man hätte auch den Wochenend-Trip nach Mallorca als Beispiel anführen können.
Den Freiheitsbegriff unterzieht Wils einer eingehenden kritischen Betrachtung, indem er diesen an kollektive Randbedingungen bindet. Eine zukünftige Deutung von Freiheit sollte stets von Bedürfnisse einer möglichst großen Gemeinschaft – in letzter Konsequenz der Weltbevölkerung – ausgehen und dabei den individuellen Freiraum eingrenzen. Außer eindringlichen Appellen bringt er dazu jedoch wenig konkrete Handlungshinweise, wohl, weil er die Folgen des ersten historischen Versuches einer solchen Vergemeinschaftung von Venezuela bis Nordkorea vor Augen hat, von China ganz zu schweigen.
Diese kritischen Randbemerkungen ändern natürlich nichts an der generellen Richtigkeit von Wils Überlegungen. Das es höchste Zeit für ein Umdenken und Umsteuern vor allem in Klimafragen ist, lässt sich nicht bestreiten; und dass es uns alle betrifft und wir wieder Worte wie „Verzicht“ und „Maßhalten“ lernen und beherzigen müssen, kann auch niemand leugnen. Doch ob das Problem dem modernen „Kapitalismus“ anzulasten ist und nicht eher allgemein menschlicher Schwäche, gepaart mit dem Unwillen, persönliche Freiräume einzuhegen und Verzicht zu üben, wäre noch zu klären. Vor allem aber das drängende Problem einer weltweiten Überbevölkerung kommt hier mangels Lösbarkeit gar nicht auf den Tisch.
Zum Schluss entwickelt Wils dann tatsächlich fünf Handlungsanweisungen, die durchweg um die Begriffe des persönlichen Freiheitsverständnisses und den individuellen Verzicht kreisen. Er wendet sich damit an seine Leser als denkende und vorausschauende Individuen und verzichtet darauf, konkrete staatliche Zwangsmaßnahmen vorzuschlagen. Doch bei allen individuellen Appellen lässt Wils durchblicken, dass bei einem durchgängigen „Verzicht auf den Verzicht“ irgendwann die staatlichen Institutionen den Verzicht aus purer Not werden verordnen müssen. Fragt sich nur, unter welchen politischen Randbedingungen.
Eine Kritik sollte hier aber noch geäußert werden. Bei aller intellektuellen Stichhaltigkeit und politischem Engagement stört doch das miserable – oder schlicht nicht vorhandene – Lektorat dieses Buches. Die typischen grammatischen Fehler einer ersten Niederschrift – etwa eine Änderung der Satzgestaltung während der Formulierung – sind hier offensichtlich nicht entdeckt und damit auch nicht korrigiert worden. Offensichtlich hat sich der Autor auf den Verlag verlassen und umgekehrt. Viele grammatische Patzer ist damit an die Leser weitergereicht worden!
Das Buch ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 279 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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