Der Roman „Die Vegetarierin“ der südkoreanischen Autorin Han Kang erschien bereits 2007 auf Koreanisch, in der deutschen Übersetzung 2016 im Aufbau Verlag. Aber erst die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2024 verschaffte der Autorin und ihrem Werk nun weltweite Aufmerksamkeit.
Im Mittelpunkt des Romans „Die Vegetarierin“ steht die Figur der Yong-Hye, einer jungen Ehefrau, die nach einem schrecklichen Traum beschließt, kein Fleisch und keinerlei tierischen Produkte mehr zu essen oder zu benutzen. Sie ist also nicht nur Vegetarierin, sondern strenge Veganerin. Mit dieser Entscheidung stößt sie auf den erbitterten Widerstand bei ihrem Ehemann und ihrer Familie. Dabei geht es der Familie nicht um das körperliche und seelische Wohl von Yong-Hye, vielmehr um deren Verstoß gegen die gesellschaftlichen Konventionen: „Man“ isst Fleisch, etwa bei einem wichtigen Geschäftsessen mit dem Ehemann.
Bei ihren Versuchen, Yong-Hye zum Essen zu zwingen, schreckt die Familie, insbesondere der Vater, vor körperlicher Gewalt nicht zurück. Yong-Hye reagiert mit einem Selbstmordversuch und landet für ein paar Monate in der Psychiatrie.
Han Kang präsentiert die familiären Konflikte und die innere Not Yong-Hyes aus verschiedenen Perspektiven.
Zunächst erfahren wir alles über die Wandlung der Yong-Hye aus der Ich-Perspektive ihres Ehemannes, der allerdings keinen Namen erhält. Das verweist auf seine Durchschnittlichkeit, zu der er sich selbst bekennt. Seine Frau hat er genau nach diesem Kriterium ausgewählt: Sie ist – aus seiner Sicht – bisher in allem durchschnittlich und anpassungsbereit gewesen und hat seine konventionellen Erwartungen an sie als Hausfrau und Ehefrau erfüllt. Er ist gewöhnt, dass sie sich seinen Bedürfnissen auch bei Unwillen fügt.
Der Wandlung seiner Frau begegnet er mit egoistischem Unverständnis, weil seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Wie alle anderen Familienmitglieder schreitet er nicht gegen die Gewalttätigkeit des Vaters ein. Yong-Hye ist für ihn nur ein Objekt, das zu funktionieren hat.
In die Erzählung des Ehemannes sind die Erzählungen der Yong-Hye eingeflochten. Sie sind eher an den Mann gerichtete Aufschreie. Sie ist erschüttert von ihren schrecklichen Träumen, die von Blut und Tötungsfantasien, von Mord, von sie umschlingender Natur, von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein handeln. Ihr eigenes Gesicht erscheint ihr in einer Blutlache als Fratze. Die Träume sind eine Herausforderung für die Leserin, deren Bedeutung für Yong-Hye zu erschließen. Sie zeugen von großer innerer Not, die aber von der Umwelt als solche nicht erkannt wird, vielmehr gelten auch die Träume als Normabweichung, die zu behandeln ist.
Yong-Hye erinnert sich an den gewalttätigen Vater, der sie schon als Kind als Sündenbock benutzt hat. Alle Versuche seitens der Familie, sie zum Essen zu zwingen, vergrößern den inneren Schmerz, der aus dem Herzen kommt. Ihr größter Wunsch ist, einen großen Schrei auszustoßen, denn keiner kann ihr helfen, keiner kann sie retten, keiner kann ihr das freie Atmen wiedergeben. Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ist für sie unerfüllbar.
Und doch gibt es eine Möglichkeit der Erfüllung. Wir erfahren aus der personalen Perspektive des Schwagers, eines Video-Künstlers, welche Faszination sie, nach der Entlassung aus der Psychiatrie, in ihrer Körperlichkeit auf ihn ausübt. Es ist das eindringlichste Kapitel dieses Romans. Hier begegnen sich zwei Menschen, die sich von allem Konventionellen lossagen und größte Lust mit ihren über und über mit Blumen bemalten Körpern erfahren. In den Höhepunkt dieser Erfahrung bricht jedoch die Realität brutal ein. Yong-Hyes Schwester In-Hye, die Frau des Künstlers, zerstört dieses rauschhafte Erleben und weist beide, Yong-Hye und den Ehemann, in die Psychiatrie ein.
Diese Maßnahme leitet des letzte Kapitel ein, das den trostlosen Niedergang Yong-Hyes jetzt aus der Sicht der Schwester erzählt. Yong-Hye hat nur noch die Möglichkeit, das Essen ganz einzustellen, um sich gegen den Anpassungsdruck von Klinik und Schwester zu wehren. Wie eine Pflanze will sie nur noch trinken.
Nur die Schwester, außer Yong-Hye die einzige, die auch einen Namen hat, fühlt sich noch verantwortlich für Yong-Hye. Aber auch sie gehört zu denen, die Yong-Hyes Nicht-Angepasstheit als Krankheit verstehen, von der sie kuriert werden muss. Das aber ist schließlich aussichtslos. Bei In-Hye flackert kurz eine Reflexion auf ihr eigenes Leben auf. Nach außen präsentiert sie sich als ernsthaft und vernünftig, während sie doch innerlich spürt, dass ihr Leben schon vor den Ereignissen, also zwei Jahre zuvor, in toter Routine erstarrt war. Damals fühlte sie sich schon ausgelaugt und müde, ihr Inneres spürte sie als großes schwarzes „Loch, das sie zu verschlingen“ drohte. Damals fand sie Ruhe nur im Wald. Auch Yong-Hye sucht in der Pflanzenwelt nach Frieden. Sie flieht aus der ersten psychiatrischen Klinik in den Wald, wo sie jedoch von den Kräften der „Vernunft“, also den Pflegern, wieder eingefangen wird. Ausbruch in die Freiheit ist nicht möglich.
Jetzt, am Krankenlager der Schwester, möchte In-Hye am liebsten schreien, um sich lebendig zu fühlen. In-Hye erkennt, dass sie den gleichen Ekel vor der Welt hat wie ihre Schwester. Hätte sie nicht ein Kind, hätte sie sich möglicherweise in derselben Art aus der menschlichen Realität zurückgezogen. Sie versteht, dass sie wie ihre Schwester nur in der pflanzlichen Welt Freiheit und Frieden finden könnte, dort, wo es keine Forderungen, Routinen und Normen gibt.
Der Roman ist eine Anklage gegen ein verhärtetes patriarchalisches System, in dem besonders den Frauen das Recht auf Selbstbestimmung und auf alternative Lebensformen abgesprochen wird. Psychiatrische Kliniken erscheinen als Orte der Gewalt, wo die Unterwerfung der angeblich seelisch kranken Menschen unter einen fragwürdigen Normalitätszwang angestrebt wird. In der Klinik gibt es nur einen Arzt, einen Allgemeinmediziner, der den Menschen Yong-Hye erkennt. Es bleiben die Fragen, warum man nicht leben darf, wie man will, und warum man nicht entscheiden darf zu sterben, wenn man es in diesem Leben nicht mehr aushält.
Han Kang mutet uns als Leserinnen und Lesern einiges zu mit ihrer Darstellung der Verzweiflung, des Aufbegehrens und der Aussichtslosigkeit auf ein anderes Leben. In ihrem Roman sind es die Frauen, die mit ihrer Verzweiflung alleine bleiben, während die Männer einfach in ein anderes Leben verschwinden. Ob in ein glücklicheres, bleibt offen. Das zentrale Motiv der Vereinigung mit der Pflanzenwelt in Träumen öffnet den Roman für weitergehende Interpretation. Dazu müsste die Leserin möglicherweise mehr über koreanische Mythen wissen.
Insgesamt ist das ein unbedingt lesenswerter Roman.
Der Roman ist in der Übersetzung aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee im Aufbau Verlag erschienen, hat 190 Seiten und kostet 22 Euro als gebundenes Buch, 12 Euro als Taschenbuch.
Elke Trost
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