Die Wunde schwäret noch

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Man wundert sich als Theatergänger bisweilen über die aktuellen Spielpläne, die viele Stücke zu Identität und Rassismus anbieten, jedoch seit Jahren zum Thema Krieg – Ukraine! –  oder Antisemitismus schweigen. Fragt man nach, hört man oft von fehlenden Stücken, wobei dahingestellt sei, ob das stimmt oder eine vorgeschobene Begründung einer ideologisch motivierten Verdrängung darstellt.

Die Berliner Schaubühne hat mit dieser Hängepartie jetzt Schluss gemacht. Mit der Inszenierung von „Professor Bernhardi“ unter der Regie von Thomas Ostermeier bringt sie den Antisemitismus und vor allem die religiöse Heuchelei auf die Bühne und damit auf den Punkt. Dafür hat man sich jedoch nicht nach einem aktuellen Theaterstück umsehen müssen, sondern hat sich direkt bei Arthur Schnitzler bedient, der dieses Stück bereits im Jahr 1912 als Kritik am strukturellen Antisemitismus der k.u.k-Monarchie – und wohl auch des Berliner Kaiserreiches – veröffentlicht hatte.

Ensemble

Nun könnte man sagen, dass die damaligen Verhältnisse nicht auf die heutige Zeit zu übertragen seien, und generell spricht einiges für diese Argumentation; doch wenn man sich die Inszenierung dieses Stücks an der Schaubühne anschaut, ist man geradezu geschockt, wie leicht und glaubwürdig es sich auch heute noch – oder wieder? – aufführen lässt.

Professor Bernhardi (Jörg Hartmann) leitet eine renommierte Privatklinik. Als eine junge Patientin mit den Folgen einer illegalen Abtreibung eingeliefert wird und im Sterben liegt, ruft die Schwester ohne Wissen der Patientin einen Pfarrer (Laurenz Laufenberg) zwecks letzter Sakramente. Als der zeitgleich gerufene Bernhardi feststellt, dass die junge Frau sich in einer Euphorie der letzten Stunde auf die vermeintliche Entlassung freut, lehnt er den Besuch des insistierenden Pfarrers ab, um der Frau diese letzte Freude nicht zu nehmen, und muss dem nach Absolution eifernden Kleriker dabei sogar den Weg zum Krankenzimmer verstellen.

Nachdem der Pfarrer mit drohenden Andeutungen die Klinik verlassen hat, scheint die Angelegenheit mit einem Kopfschütteln Bernhardis und dem Nicken seiner Ärzte erledigt. Doch als sein Stellvertreter Dr. Ebenwald (Sebastian Schwarz) ihm nahelegt, für einen wichtigen Posten nicht die kompetente, aber selbstbewusste jüdische Ärztin sondern einen eher mittelmäßigen Nichtjuden zu empfehlen, weigert er sich aus naheliegenden Gründen und zieht sich dadurch die Gegnerschaft seines Kollegen zu. Da er selbst jüdischer Abstammung ist und der Cousin seines Stellvertreters eine wichtige Position in einer populistischen Partei einnimmt – eine leichte Aktualisierung des Schnitzler-Stoffes -, sind die Karten für ein niederträchtiges Spiel gemischt.

Jörg Hartmann und Sebastian Schwarz

Folgerichtig tritt der Stiftungsrat der auf private Spenden angewiesenen Privatklinik zurück, und es gibt eine Anfrage der erwähnten Partei im Parlament. Der Gesundheitsminister (Thomas Bading), alter Kommilitone Bernhardis und einst sein Freund, fällt vor dem parlamentarischen Gegner trotz großspuriger Zusagen an Bernhardi aus politischer Feigheit um und empfiehlt eine juristische Klärung. Es kommt zum Prozess, in dem Bernhardi dank falscher und nicht berücksichtigter entlastenden Aussagen verurteilt wird und Stellung wie Approbation verliert.

Als er nach Verbüßung der kurzen Haftstrafe bei seinem alten Ministerfreund wegen dessen Verhalten vorspricht, erlebt er nur vollmundige Ausreden, garniert mit persönlichen Freundschaftsbekundungen, die jedoch nur als Absicherung gegen eine breite öffentlichen Solidaritätswelle für Bernhardi erfolgen. Am Ende sitzt Bernhardi allein auf der Bühne, von allen verlassen und sozial ausgegrenzt. Im Jahr 1912 hatte dieses Ende – aus der Rückschau betrachtet – geradezu prophetischen Charakter, und darauf spielt die Inszenierung ganz offensichtlich an. Dem Zuschauer drängt sich natürlich die Frage auf, wie heute die Zukunft dieses Professors – und seiner jüdischen Leidensgenossen aussehen würde.

Das Stück ist in drei nahtlos aneinander anschließende Akte unterteilt. Der erste spielt in der Klinik und schildert die Ereignisse aus der Sicht Bernhardis und seiner Kollegen. Hier zeichnen sich die Fronten ab zwischen Bernhardis ethisch motivierten Fürsprechern und den von Karrieredenken und Ressentiment Getriebenen um Ebenwald. Höhepunkt ist eine furiose Sitzung mit einem feurigen moralischen Vortrag des Bernhardi-Freundes Pflugfelder (Robert Beyer)und einer mehr als abschätzigen Antwort Ebenwalds. In dieser Sitzung treten die Charaktere der einzelnen Figuren vom unerschütterlichen Optimismus und Glauben Bernhardis an Vernunft und Recht über das Mitläufertum bis hin zu Ressentiment und Neid deutlich hervor.

Ensemble

Im zweiten Teil verarbeitet Bernhardi die unerwartete Verurteilung und den damit verbundenen sozialen Absturz im Kreise der Getreuen. Dieses Zwischenspiel wäre unwichtig, wenn nicht gar überflüssig, wenn hier nicht die zentrale Szene des ganzen Stücks stattfinden würde. Unerwartet meldet sich ausgerechnet der Pfarrer an, um Bernhardi mitzuteilen, dass er sein Verhalten vollständig verstehe. Auf die erstaunte Nachfrage, warum er dies nicht im Prozess gesagt habe, führt er seinen Glauben an, den er damit verraten hätte. In der weiteren, sich zuspitzenden Diskussion kommt der Pfarrer dann zum Schluss, dass „Leute aus Ihren Kreisen“, sprich: Juden, niemals die Weihe und das hohe menschliche Niveau christlichen Glaubens verstehen werden. Die ganze Bigotterie und Anmaßung der dogmatischen (katholischen) Kirche kommt hier in wenigen Sätzen zum Ausbruch, und der Pfarrer verlässt das Haus wie ein Richter, der sein Urteil über einen Unbelehrbaren gesprochen hat.

Der letzte Teil spielt nach Bernhardis Entlassung. Während seines mit dem Drang nach Abrechnung und Genugtuung initiierten Gesprächs mit seinem alten Pseudo-Freund und Minister spürt er in den leeren und eitlen Worthülsen des Gegenübers die Sinnlosigkeit seines Unterfangens und zieht sich in eine stille Resignation zurück. Ausgerechnet der alerte Vorzimmerchef des Ministers (Christoph Gawenda) wird ihm dann einige Verhaltenstipps geben, die sich vordergründig nachvollziehbar anhören, aber im Grunde genommen an Zynismus nicht mehr zu überbieten sind.

Der Rest ist Schweigen.

Das Ensemble der Schaubühne liefert mit dieser Inszenierung eine beeindruckende Gesamtleistung ab, in der es schwerfällt, einzelne Darsteller hervorzuheben. Aufgrund der Zahl und Intensität der Auftritte ist Jörg Hartmann als Bernhardi mit seiner Variabilität und seiner stillen Ironie zu nennen, aber auch Sebastian Schwarz´ Unsympath Dr. Ebenwald oder Thomas Badings selbstgefälliger Minister verdienen eine Erwähnung, von Robert Beyers fulminanter, an Mark Antons „Friends, Romans,….“ erinnernder Rede ganz zu schweigen. Eine eher satirische Rolle dagegen spielt der Praktikant, dem Moritz Gottwald eine geradezu beklemmende Mischung aus Verklemmtheit, Übergriffigkeit und Hinterlist verleiht.

Das Publikum im ausverkauften Haus spendete kräftigen und lang anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

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