Die Neue Nationalgalerie in Berlin ist immer ein Quell kultureller Inspirationen und Informationen, da sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, den jeweiligen künstlerischen Zeitgeist und seine Artefakte zur Schau und zur Diskussion zu stellen. Derzeit – November 2024 – bietet sie dem Publikum zwei sehenswerte Ausstellungen: Eine Monographie mit dem selbsterklärenden Titel „Gerhard Richter“ sowie „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft“.
Gerhard Richter kann man mit einigem Recht als „den“ bildenden Künstler des letzten halben Jahrhunderts bezeichnen. Geboren im Jahr 1932, hat er nicht nur die einschneidendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts erlebt, sondern auch über ein halbes Jahrhundert lang den deutschen Kunstmarkt geformt. Die Neue Nationalgalerie hat aus naheliegender Gründen mit der Präsentation ihrer eigenen „Richter“-Sammlung nicht bis zum 100. Geburtstag des Künstlers gewartet, sondern nutzt die Tatsache, dass dieser noch gesund und munter ist (was wir einmal annehmen), dazu, hundert seiner Bilder aus dem eigenen Bestand in der besagten Ausstellung zu zeigen. Es sind vielleicht nicht seine bekanntesten – die mit der berühmten „Verwischtheit“ – Werke, sondern eine Sammlung quer durch sein künstlerisches Leben. Da sind Hinterglasmalereien kleinen Formats ebenso wie Aquarelle, aber auch großflächige Werke experimentellen Charakters, etwa „Strip“, ein wandfüllendes Streifenwerk, dessen vielfarbige, streng horizontale Streifen Assoziationen von EAN-Codes wecken. Dann wieder gibt es eine Reihe von Bildern, die aus reinen Farbkompositionen bestehen, hergestellt zum Teil mit dem Spachtel und der Malerrolle, ohne gezielte figurative Absicht, mal Pastellfarben, mal kontrastreich mit Vorliebe für Rot und Grün.
Im Mittelpunkt – und in einem eigenen Raum – stehen bzw. hängen die „Auschwitz“-Bilder. Diese basieren auf einigen erschreckenden, heimlich erstellten Fotos außen Vernichtungslager Birkenau, die auch als Belege neben die eigentlichen Bilder gehängt wurden. Diese Fotos hat Richter vergrößert und sukzessive mit verschiedenen Schichten übermalt, damit die Wirkung (un)bewusster Verdrängung veranschaulichend. Um diese Verdrängungsschau noch zu verstärken, hat Richter ausgewählte Bilder nur mit Spiegelglas versehen, das heißt, er hat lediglich einen wie ein Bild gerahmten Spiegel in den Raum gehängt. Damit sieht sich der Betrachter plötzlich in den Auschwitz-Kontext integriert. Das Publikim wird somit vom externen, vermeintlich „neutralen“ Betrachter zum Teil der Geschichte und damit in gewisser Weise zum Täter. Und das ist bei dem – vielleicht unabsichtlichen – Vergessen, aber auf jeden Fall beim Verdrängen tatsächlich der Fall. Man verlässt diesen Raum mit einem schlechten Gewissen, und das ist gut so.
Die zweite Ausstellung beschäftigt sich mit dem Echo des Weltgeschehens in der Kunst der Jahre zwischen 1945 und 2000 und ist chronologisch strukturiert. Die Zeitabschnitte orientieren sich jedoch nicht nur an Jahreszahlen, etwa Dekaden, sondern an zusammenhängenden Epochen. So bildet etwa die Restauration der 50er Jahre mit Wiederaufbau und Verdrängung („nach vorne schauen!“) einen eigenen Bereich, der die durchaus vordergründige Aufbruchsstimmung, in Deutschland das „Wirtschaftswunder“, mit Fotos und kritischen Werken der zeitgenössischen Künstler dokumentiert. Neben Künstlern, die bereits in dieser Zeit die Untaten des Dritten Reiches verarbeiten, gehört aber auch ein Andy Warhol mit seinen Bildern von Elvis Presley oder Marilyn Monroe dazu.
Besondere Aufmerksamkeit widmet die Ausstellung auch dem Spannungsverhältnis zwischen Ost und West, speziell zwischen der BRD und der DDR. Neben gesellschaftskritischen Bildern des Westens sieht man hier Werke des Sozialistischen Realismus sowohl aus der DDR als auch aus der UdSSR, etwa eine Gruppe gut gelaunter, siegesgewisser sowjetischer Kosmonauten oder eine zukunftsfreudige Darstellung des chemischen Werke von Leuna mit lachenden Familien, Zukunft gestaltenden Ingenieuren, heroischen Artbeitern und Gabelstaplern, die den „ideologischen Müll“ der westlichen (Un)Kultur entsorgen. Heute weckt dieser tapfer-naive Realismus eher ein leicht bitteres Lächeln.
Diese Ausstellung bietet ein derart breites Kompendium an Werken und Zeitströmungen, dass man die gar nicht in einem Durchgang erfassen kann. Zu unterschiedlich sind die Herangehensweise und die jeweiligen Aussagen, von naiver Zukunftsgläubigkeit über bittere Ironie bis hin zu Anklagen und – ja! – einem gewissen Zynismus. Was will man auch machen, wenn die eigene künstlerische Aussage entweder nicht erlaubt ist oder nicht gehört werden will?
Wer sich einen Überblick über die künstlerische Entwicklung der letzten siebzig Jahre verschaffen will, der sollte allein für diese Ausstellung einen ganzen Tag einplanen, oder besser gleich zweit Tage. Dann kann man sich in aller Ruhe den einzelnen Räumen und den dort gezeigten Werken zuwenden.
Es lohnt sich auf jeden Fall!
Näheres ist der Webseite der Neuen Nationalgalerie zu entnehmen.
Frank Raudszus
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