Kann Musik Geschichte zum Klingen bringen, auch die schrecklichste? Der Sprache werden gerne Grenzen der Ausdrückbaren zugeschrieben, die dann nur die Musik überschreiten kann. Gilt das nur für individuelle Emotionen oder auch für kollektive Erfahrungen?
Diese Fragen haben sich nicht zuletzt Komponisten der Moderne gestellt, die dank der modernen Massenmedien in besonderem Maße die Schrecken der Welt kennengelernt haben. Bernd Alois Zimmermann, Jahrgang 1918, war einer von ihnen, und die revolutionären Ereignisse der späten Sechziger setzten in ihm sowohl Erinnerungen an seine Zeit als Soldat frei und lösten Ängste vor einer Wiederholung der überwunden geglaubten Geschichte aus. So entstand um diese Zeit – sozusagen als Rückschau auf ein halbes Jahrhundert Revolution, Diktatur und Krieg – sein konzertantes Werk „Reqiem für einen jungen Dichter“, das im Staatstheater Darmstadt unter der Regie von Intendant Karsten Wiegand zusammen mit Morton Feldmanns „Rothko Chapel“ als szenische Darstellung Premiere feierte.
Obwohl beide Werke rein konzertanter Natur sind, hat sich Wiegand für eine Bühnenversion entschieden, wohl, weil Musik alleine die Breite und Tiefe der emotionalen Eindrücke zwar ausdrücken aber nur schwer vermitteln kann. Der Mensch ist ein visuelles Tier und benötigt Bilder zum Verständnis größerer Zusammenhänge.
Zimmermann ging bei seinem Requiem von drei Dichtern des 20. Jahrhunderts aus, die ihrem Leben aus Verzweiflung selbst ein Ende setzten. Dabei stehen die beiden Russen Jessenin und Majakowski im Vordergrund, die mit der stalinistischen Entwicklung der russischen Revolution nicht leben konnten und aus der Ausweglosigkeit die Konsequenzen zogen. Majakowski hatte noch im Jahr 1925 Jessenin wegen seines Freitods kritisiert, nur um ihm fünf Jahre später zu folgen.
Zimmermann hat die Freitod-Texte der beiden Russen als Ausgangspunkt seiner Musik genommen und sie um entsprechende Texte des Österreichers Konrad Baier ergänzt, der ebenfalls früh aus dem Leben schied. Da Sprache eines der stärksten und unheilvollsten Mittel aller Revolutionäre ist, erweiterte Zimmermann sein „Libretto“, wenn man es denn so nennen darf, um Wittgensteins Überlegungen zur Sprache als Grundlage aller Kommunikation.
In Zimmermanns Musik gewinnt Sprache in Gestalt des Chors Ausdrucksform, nicht als handlungsgetriebenes Musiktheater. Die liturgischen Elemente des Reqiems wie „Ricercar“ oder „Dona nobis pacem“ werden dabei eng mit politischen, literarischen Texten und persönlichen Bekenntnissen von Jessenin und Majakowski bis hin zu Texten von Ezra Pound und des ungarischen Dichters Sandor Weörnes verwoben.
In Wiegands Inszenierung tragen fünf Sprecher diese Texte in teilweise bewussten Überschneidungen vor, denn im Vordergrund steht nicht die volle Verständlichkeit des einzelnen Textes, sondern die Wirkung der auch in der historischen Realität sich überschneidenden Wortmeldungen. Dazu fallen auf einem Gaze-Vorhang erst Wittgensteins Worte über Sprache und ihre Grenzen wie Regentropfen auf die Bühne herab, später spielen sich dort Szenen aus fünfzig Jahren Revolution und Diktatur von Trotzki über Mussolini und Goebbels bis hin zu Rudi Dutschke ab. In einer Endlosschleife wiederholen sich die Szenen mit Original-Tönen aus der jeweiligen Zeit, seien es die schneidenden Stimmen der Redner oder die skandierten Parolen der 68er-Studenten.
Als Kontrast zu diesen dystopischen Szenen lässt Wiegand die drei Chöre – Konzertchor Darmstadt, Opernchor des Staatstheaters und Symphonischer Chor Bamberg – in fast schon grell zu nennenden Kostümen auftreten, damit Vielfalt und Optimismus zum Ausdruck bringend. Es ist noch nicht alles verloren, wir können noch hoffen – so die Aussage.
Das Orchester ist opulent aufgestellt, bis hin zu den Posaunen des Jüngsten Gerichts, die auch als revolutionäre Fanfaren verstanden werden können. Die zum Requiem gehörenden Gesänge liefern Anja Petersen (Sopran) und David Pichlmaier (Bass) in Gestalt eines pseudohistorischen Duetts in szenischer Darstellung, wobei die Bildregie dieses Paar unablässig in die verschiedensten mythologischen Tiergestalten verwandelt. Dieser Einfall überzeugt gerade wegen seiner Originalität und visuellen Reduktion, während die historisch-revolutionäre Bilderfolge samt Originaltönen auch etwas kürzer hätte ausfallen können. Zu sehr lenkt dieser visuellen Dauerbeschuss das Publikum von der Musik ab, denn gerade zwanghaft versucht man Bilder und Reden einzuordnen.
Doch trotz dieser zeitweise visuellen Überfülle beeindruckt diese Inszenierung durch ihre Konsequenz und die Präsenz sowohl der Musik als auch des Chores mit den gesprochenen/gesungenen Texten, wobei vor allem die liturgischen Passagen ihre Wirkung entfalten. Zimmermanns Musik wirkt denn auch gar nicht mehr fremdelnd-modern, sondern überträgt sowohl die Verzweiflung als auch die Anmaßung der vorgetragenen Texte in unmittelbare musikalische Wirkung. Hier wird das bereits erwähnte Wort Wirklichkeit, dass Musik die Grenzen der Sprache überwindet.
Morton Feldmanns „Rothko Chapel“ setzt dann als Kontrast auf die musikalische und visuelle Reduktion. Vom Bühnenhimmel senkt sich zu der kammermusikalischen Intonation einer fünfköpfigen Gruppe mit Viola, Schlagwerk und Celesta ein leuchtender Rahmen ab, der über die knapp halbstündige Spieldauer unverrückt ins Publikum strahlt und alle Aufmerksamkeit auf die introvertierte, minimalistische Musik lenkt. Hintergrund dieses Auftragswerk war die Vertonung eines Bildauftrags an den Maler Rothko für eine Andachtskapelle in den USA. Rothko entwickelte für den Bau eine Reihe von scheinbar monochromen dunklen Bildern, die ihre verborgene Vielfarbigkeit erst nach längerer Betrachtung zeigen. Rothko wollte damit die Betrachtung in einen Selbsterfahrungsprozess lenken, der anstelle des schnellen Verstehens und „Abhakens“ von figurativen Bildern treten sollte. Diesen Prozess bildet die Musik in Verbindung mit dem Chor sowie zwei Stimmen – Sopran und Alt – nach, indem sie die Zuhörer ebenfalls zwingt, sich auf diese verhaltene, äußerst reduzierte Musik einzulassen und sich von keinen visuellen oder rationalen Einflüssen ablenken zu lassen. Da der Chor statt verständlicher Texte nur Vokalisierungen vorträgt, entfällt das „Verstehen“ eventueller Texte, und es bleibt die geradezu meditative Beschäftigung mit Feldmanns Musik.
Nach der visuell (über)fordernden Macht des Reqiems lässt diese Musik die Sinnesorgane und das musikalische Gespür des Publikums wieder zu sich kommen, und statt revolutionärer Reden steht jetzt der einzelne, lang ausklingende Ton im Vordergrund.
Am Ende zeigte sich das Publikum ausgesprochen beeindruckt von dieser Fülle an musikalischen, visuellen und historisch-politischen Eindrücken und spendete allen Beteiligten begeisterten Beifall.
Frank Raudszus
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