Arno Geiger: „Reise nach Laredo“

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Im Spanien des 16. Jahrhunderts reiten zwei männliche Personen auf einem Pferd und einem Maulesel durchs Land, der eine ein weltfremder Mann aus hohem Stande, und der andere ein fröhlicher Junge. Kennen wir das nicht, und liegen uns da nicht sofort zwei Namen auf der Zunge?

Sicher war sich Arno Geiger der Analogie zu Don Quixote bewusst oder hat sie sogar absichtlich angelegt, doch deswegen ist sein Roman noch lange keine neuere Abwandlung dieses Stoffes, sondern folgt einem ganz eigenen Muster, das sich nicht der Ironie oder gar der scharfen Satire bedient.

Es geht um Karl V., den Kaiser und König, in dessen Land nach eigener Aussage die Sonne nicht unterging. Im Jahr 1556 hatte er wegen seiner Gicht abgedankt und ging als Karl zwecks Heilung ins Kloster Yuste in der Extremadura westlich von Madrid. Arno Geigers Roman beginnt dort im Jahr 1558 mit der drastischen Schilderung der Heilungsversuche an einem medizinischen Wrack. In seinem Roman geht Geiger geht nicht weiter auf dynastische Vergangenheit ein, sondern nennt seinen Protagonisten nur Karl, in seinen inneren Monologe auf sein einsames und streng geregeltes monarchisches Leben zurückblickt. Das Kloster ist angefüllt von militärischen und medizinischen Würdenträger, die sich alle um Karl kümmern und sorgen, doch von ihnen hat jeder seine eigenen Wünsche und Ziele, so dass Karl viel Zeit für sich und das Nachsinnen über sein sich dem Ende zuneigendes Leben hat.

In dem Kloster lebt auch Karls elfjähriger illegitimer Sohn Geronimo, der jedoch nichts von seinem Status weiß und fröhlich seine Tage genießt. Karl sucht jedoch bewusst, wenn auch unauffällig dessen Nähe, und eines Tages überkommt ihn der dringende Wunsch, mit seinem Sohn nach Laredo an die Küste der Biscaya zu reiten. Dabei spielt dieses Laredo ohne weitere Erklärung die Rolle eines Pilgerzieles. Die fehlende Begründung spielt jedoch keine Rolle, weil in diesem Roman die alte Regel gilt, dass der Weg das Ziel ist.

So reisen die beiden eines Nachts heimlich ab und werden – ein Aspekt der dichterischen Freiheit – auch nicht von dem kopfstarken Klosterpersonal eingefangen. Bereits in der ersten Nacht stoßen sie auf eine Gruppe aufgeheizter Landbewohner, die gerade dabei sind, ein junges Paar zu Tode zu foltern. Karl gelingt es mit Hilfe seiner Pistolen, die Folterer zu vertreiben, und anschließend setzen sie ihre Reise mit dem Geschwisterpaar Angelique und Honsa fort.

Die Reise führt sie in einen kleinen Ort, wo sie in einem heruntergekommenen Gasthaus Halt machen. Doch anstatt bald wieder weiterzufahren, versackt Karl buchstäblich beim abendlichen Trinken und Kartenspielen mit dem Wirt, der ihn nach Strich und Faden betrügt und noch über ihn lacht. Honsa und Angelique drängen vergeblich auf Weiterfahrt, und selbst der stets fröhliche Geronimo beginnt, an der Zukunft mit diesem alten Mann zu zweifeln, und entwickelt so etwas wie Verantwortung für ihn.

Karl jedoch fühlt sich vom Leben zwischen den einfachen Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Ängsten und Sehnsüchten zunehmend hilflos. Jetzt erst wird ihm bewusst, wie lebens- und weltfremd er erzogen wurde und wie wenig er in der Lage ist, alltägliche Entscheidungen zu treffen. Für die oft auch moralisch fragwürdigen Situationen im täglichen Leben fühlt er sich nicht gerüstet, und so gerät er in eine seelische Abwärtsspirale, die er selbst nicht mehr stoppen kann.

Als sich um das Geschwisterpaar eine Tragödie anbahnt, fühlt Karl sich gefordert, will doch Honsa seine Schwester gegen die Zusage einer bürgerlichen Anerkennung an den lüsternen Wirt verschachern. Die Geschwister gehören zu der geächteten Volksgruppe der „Coga“ – Juden? – und müssen jederzeit mit Ausgrenzung oder Verfolgung – wie in der nächtlichen Szene – rechnen. Als diese Szene für Honsa tödlich endet, erwacht Karl aus seiner Lethargie und setzt seine Reise mit Geronimo und Angelique fort.

In Laredo angekommen, steigt Karl am Strand ins Meer und findet dort sein Ende. Dieser Tod hat ausgeprägten metaphorischen Charakter, hat doch Karl auf dieser Reise in einer Art Zeitraffer nachträglich das wirkliche Leben mit all seinen Abgründen, aber auch Hoffnungen kennengelernt. Sein Tod ist weniger auf die Wirkung des kalten Atlantikwassers als auf die Erkenntnis des wahren Lebens zurückzuführen. Ein zentraler Punkt dieser Erkenntnis ist sein Sohn Geronimo, den er als fröhliches, neugieriges und empathisches Kind kennen und lieben gelernt hat. So kann sich Karl guten Gewissens von dieser Welt verabschieden.

Arno Geiger hält sich soweit möglich an bekannte Fakten wie Krankheiten und historische Daten. Das Problem, Karls historisch nicht nachgewiesene heimliche Reise mit seinem Sohn glaubwürdig in einen Roman einzubauen, löst Geiger mit einem – hier nicht verratenen – literarischen Trick, der im letzten Kapitel, nach Karls Tod in Laredo, die ganze Geschichte noch einmal dreht und die Leser mit den historischen Fakten versöhnt.

Matthias Brand liest den Roman mit gerade dem richtigen Maß an Einfühlsamkeit und ohne jede falsche Sentimentalität. Er trifft die verzweifelte Unsicherheit oder unsichere Verzweiflung eines Helden, der nie wirklich gelebt und keine persönliche menschliche Zuwendung kennengelernt hat, auf die kleinste Regung genau. Das meiste spielt sich in Karls inneren Monologen ab, in denen dieser zögernd ziellos mit seinem Leben abrechnet, und Brands Sprache spiegelt diese mit der Selbstkontrolle des geborenen und erzogenen Herrschers gepaarte innere Ratlosigkeit eines absolut einsamen Menschen überzeugend wider. Diese Intensität fordert jedoch die volle Aufmerksamkeit des Hörers, denn in fast jedem Satz geht es um alles, auch wenn der Inhalt vordergründig alltäglich erscheint.

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst 6 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 461 Minuten und kostet 21,78 Euro.

Frank Raudszus

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