Nach Alex Schulmans hinreißendem Roman „Die Überlebenden“, in dem es um traumatische Kindheitserfahrungen dreier Brüder geht, und dem nicht weniger faszinierenden „Verbrenn all meine Briefe“, in dem Schulman der Beziehung seiner Großeltern nachgeht, war ich gespannt auf den 2022 auf Schwedisch erschienenen Roman „Endstation Malma“, den die Deutsche Verlagsgesellschaft 2023 auf Deutsch herausgegeben hat. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Wieder geht es um Familienkonstellationen und traumatische Kindheitserfahrungen, die über die Generationen weitergegeben werden. Im Zentrum stehen diesmal Töchter, die in den Strudel der elterlichen Auseinandersetzungen und Trennungen geraten, ohne wirklich zu wissen, was die Eltern antreibt und was wirklich geschehen ist.
Auch dieser Roman ist sehr kunstvoll aufgebaut. Es gibt drei Zugfahrten von Stockholm nach Malma, einem kleinen Ort südwestlich von Stockholm, im Wald an einem See, wieder die typisch schwedische Idylle, die glücksverheißend erscheint. Tatsächlich geht es jedoch um das Familiendrama der kleinen Harriet, das sie für ihr Leben traumatisieren wird. Ihre Familiengeschichte entfaltet Schulman auf diesen drei Zugfahrten. Die drei Zugfahrten sind auf drei verschiedenen Zeitebenen angesiedelt, die jeweilige aktuelle Handlung wird im szenischen Dialog gezeigt. Sie ist gleichzeitig Auslöser für die Erinnerungsprozesse der handelnden Figuren, die die Ereignisse reflektieren, deuten und auch umdeuten. Harriets Leben setzt sich so für uns als Leserinnen wie ein Mosaik aus vielen Bruchstücken zusammen. Die sich zum Teil widersprechenden Erinnerungen und Deutungen verweisen auf das Trügerische von Erinnerungen.
Die erste Zugfahrt nach Malma macht die 9-jährige Harriet mit ihrem Vater Bo. Sie will ihr Kaninchen dort beerdigen, wo jetzt ihre Mutter und ihre Schwester leben. Auf der Fahrt erinnert sich Harriet an die ein Jahr zurückliegende Trennung der Eltern. Sie hat damals mitbekommen, dass sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter lieber ihre Schwester zu sich nehmen wollten. Sie, Harriet, ist die Verschmähte. Das wird für sie zum Leitmotiv ihres Lebens werden. Ein Besuch bei Mutter und Schwester kurz nach der Trennung endet mit einer Katastrophe, weitere Besuche hat es bisher nicht gegeben. Jetzt kommt es noch einmal zu einer kurzen Begegnung mit der Schwester, die jedoch für Harriet nur enttäuschend ist, denn auch die Schwester verschmäht sie. Die Vater-Tochter-Beziehung aber erscheint sehr innig. Harriet kann ihm erst jetzt, also ein Jahr später sagen, womit die Schwester sie damals provoziert hat und was sie ein Jahr lang mit sich herumgetragen hat.
Als Leser erfahren wir das erst ganz zum Schluss des Romans, denn Schulman erzählt die Ereignisse nicht in einem Zusammenhang, vielmehr verschränkt er Harriets kindliche Erinnerungen abwechselnd mit den Erinnerungen ihres Mannes Oskars auf der zweiten Zugfahrt und mit den Erinnerungen ihrer inzwischen 31-jährigen Tochter Yana auf der dritten Zugfahrt. Yana begibt sich nach dem Tod des Vaters auf die Spuren der Mutter, die nach dem Zerwürfnis der Eltern vollständig aus ihrem Leben verschwunden ist.
Die zweite Zugfahrt betreibt Harriet als Ehefrau überstürzt nach einem schweren, kaum noch heilbaren Streit mit ihrem Mann Oskar. Die 10-jährige Tochter lassen sie ohne Nachricht zurück. Oskar erfährt erst unterwegs, dass es nach Malma geht, dem traumatischen Ort aus Harriets Kindheit. Die schweigende Spannung zwischen den Ehepartnern ist für Oskar der Anlass, sich an die erste Begegnung mit Harriet und den Beginn ihrer Beziehung zu erinnern. Wieder ist es eine Zugfahrt, diesmal von Göteborg nach Stockholm. Harriet wird ohne Fahrkarte erwischt, angeblich hat sie genug Geld auf ihrer Karte, aber digitales Zahlen ist nicht möglich. Oskar ist beeindruckt von dieser eigenwilligen, offenbar sehr selbstbewussten jungen Person und bezahlt für sie die Fahrkarte.
Die Richtung ist bei dieser Fahrt eine andere, Stockholm ist Zeichen für den Beginn von etwas Neuem und Vielversprechendem. Der sich erinnernde Oskar aber wundert sich, dass er die Warnzeichen einer innerlich völlig zerrissenen Persönlichkeit nicht gesehen hat. Er hätte wissen müssen, dass diese Beziehung nur im Desaster enden kann. So steht dann auch am Ende der zweiten Zugfahrt nach Malma kein Neuanfang, sondern wieder eine Katastrophe. Oskar erkennt nicht nur seine Frau in ihrer Unberechenbarkeit und Exzentrik, sondern auch sich selbst, dessen innerer Druck immer wieder zu unkontrollierten Wutausbrüchen führt. Auch er ist offenbar nicht fähig zu einer stabilen Beziehung. Auch er ist ein Ungeliebter, Sohn einer „durchgeknallten“ Mutter.
Nach Oskars Tod bleibt der Tochter Yana als Erbe nicht mehr als ein Fotoalbum, das nur bruchstückhafte Hinweise auf das Leben der verschwundenen Mutter gibt. Auch Yana ist eine Verlassene. Sie kann nicht begreifen, warum die Mutter sie verlassen hat, obwohl sie ihr immer wieder beteuert hat, dass sie das Wichtigste in ihrem Leben ist. Oskar zieht sich nach dem Verschwinden von Harriet zunehmend im Schweigen zurück, für Yana ist es nicht möglich von ihm mehr über ihre Mutter zu erfahren. Deshalb macht sie sich mit dem Fotoalbum auf nach Malma, um dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur zu kommen. Aber auch das ist ohne Erfolg.
Yanas Kindheit und Jugend sind nach der Trennung der Eltern und den inneren Rückzug des Vaters durch Einsamkeit und mangelndes Selbstwertgefühl bestimmt. Ob sie, anders als ihre Mutter, aus dem Teufelskreis der Familientragödien wird ausbrechen können, bleibt offen.
Der Roman kreist um die Sehnsucht der Menschen nach Nähe und Wärme und um die Angst vor der Einsamkeit. Das Motto „Du bist nicht allein“ bzw. „You`re not alone“, ein Zitat aus einem Song von David Bowie, zieht sich durch den Roman. Harriets Vater beteuert es der kleinen Tochter gegenüber immer wieder, Oskar hat es sich auf den Oberarm tätowieren lassen. Es wirkt wie eine Beschwörungsformel, mit der die Väter die eigne Angst vor der Einsamkeit bannen zu wollen scheinen.
Einsam sind sie alle, die Töchter wie die Väter, es wird mehr geschwiegen und noch mehr verschwiegen als gesprochen, zwischen den Ehepartnern wird auf das Heftigste gestritten, ohne dass es zu neuem Verstehen oder gar Versöhnung kommt. Die Zugfahrten stehen für die Suche nach dem Ort, an dem Erlösung möglich erscheint. Malma aber erweist sich für alle als Endstation.
Für uns als Leserinnen und Leser ist es schwierig die familiären Beziehungen zu beurteilen, weil die Ereignisse im Nachhinein unterschiedlich interpretiert werden. In der Erinnerung von Harriet wie auch von ihrer Tochter Yana erscheinen die Väter als diejenigen, die sich nicht für die Tochter interessieren, sie in ihrem Kummer über den Verlust der Mutter alleine gelassen haben. Die szenischen Darstellungen dagegen zeigen sehr liebevolle und tröstende Väter, die versuchen, die Tochter aufzufangen und ihr Sicherheit zu geben.
Schulman klagt niemanden an, vielmehr lässt er uns teilhaben an der Frage, wie viel oder wie wenig wir als Kinder über unsere Eltern wissen können. Sind wir deshalb ungerecht in der Beurteilung unserer Eltern, weil wir aus ihrem Leben nur Bruchstücke kennen? Und weil wir den kurzen Zeitraum, den wir mit ihnen zusammenleben, nur aus unserer Betroffenheit als Tochter oder Sohn sehen?
„Endstation Malma“ lässt uns zurück mit der Frage, ob es die „glücklichen Familien“ wirklich geben kann, die Yana meint durch die erleuchteten Fenster von außen zu sehen. Haben traumatisierte Kinder eine Chance, dem Teufelskreis von Verlust und Einsamkeit zu entkommen?
Insgesamt ist das wieder ein unbedingt lesenswerter Roman, der uns aber auch einiges zumutet.
Der Roman ist in der hervorragenden Übersetzung von Hanna Granz bei der dtv Verlagsgesellschaft erschienen, hat als gebundenes Buch 299 Seiten und kostet 24 Euro, als Taschenbuch 13 Euro.
Elke Trost
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