Wer hat Angst vor Edgar Wallace?

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Der Rezensent erinnert sich noch an die spannenden Edgar-Wallace-Krimis der 60er Jahre in Schwarz-Weiß auf – in der Rückschau – Miniatur-Fernsehern. Die Spannung schlug den jungen Fernsehneuling in den Bann, und am Ende bekam Joachim Fuchsberger als ermittelnder Inspektor stets die junge, meist schwer bedrohte Schöne in Gestalt von Vivi Bach.

Die „Neue Bühne Arheilgen“ in Darmstadt Norden hat sich jetzt auf eine Nostalgie-Tour in das frühe 20. Jahrhundert begeben und den Wallace-Krimi „Das indische Tuch“ inszeniert. Wie es sich bei einem Theater der freien Szene gehört, verzichtet Regisseurin Renate Renken auf jegliche ironische Brechung oder gar krampfhafte Aktualisierung und erzählt die Geschichte im Originalton. Schließlich geht es hier um Unterhaltung und nicht um Belehrung.

v.l.n.r.: Gabriele Reinitzer, Vivien Pantea Seifert, Rainer Poser, Axel Raether und Bettina Koch

Das beginnt schon bei dem Bühnenbild, das auf den kleinen Tischchen des herrschaftlichen Landsitzes von Lord Lebanon (Rainer Poser) irgendwo in England Telefone mit Drehwählscheiben enthält. Die passen wohl eher in die filmische Rezeptionszeit der Sechziger, aber echte Telefone aus dem Anfang des Jahrhunderts waren wohl schwer zu bekommen.

Lady Lebanon (Gabriele Reinitzer) folgt ihrem geliebten Sohn Willie (Mike Brendt) wie eine Helikopter-Mutter auf Schritt und Tritt und möchte seine pianistische Karriere sowie sein gesamtes Leben minutiös steuern, während der Lord die Dauerbeschallung durch das Klavier eher erduldet als genießt. Butler Bonwit (Axel Raether) schleicht vorgebeugt durch das Schloss und kommentiert jede Aktion der herrschaftlichen Familie mit hingeknurrten, treffenden Bemerkungen.

Als der Lord plötzlich stirbt, bescheinigt der herbeigerufene Arzt Dr. Amersham sofort einen Herzinfarkt, obwohl die Zuschauer den Mord mit einem roten Tuch selbst verfolgen konnten. Das erzählt die Lady denn auch der zur Testamentseröffnung herbeigerufenen Verwandtschaft: Mrs. Tilling, die Schwester des Verstorbenen und liebe Intimfeindin der Lady, mit ihrem ungehobelten – weil Amerikaner! – und ungeliebten Mann, Reverend Hastings im schwarzer Priesterkutte und die junge Isla Harris (Vivien Pantea Seifert), eine entfernte Verwandte.

Der junge Anwalt Frank Tanner übernimmt die Verlesung des Testaments, das zuerst den vorletzten Willen des Verstorbenen ausweist. Demzufolge hat die Erbengemeinschaft eine Woche im Schloss zu verharren, bevor der letzte Wille verlesen wir. Die ohnehin schon prekäre Situation verschärft sich noch, als ein schweres Unwetter die Halbinsel mit dem Schloss vom Rest der Welt abtrennt und sogar das Telefon lahmlegt. Der klassische Fall vieler Kriminalromane, die alle Verdächtigen in einem geschlossenen Raum zusammenführen, um Eifersucht, Missgunst und Neid auf die Spitze zu treiben.

Vivien Pantea Seifert und Gabriele Reinitzer

Und so geschieht es denn auch hier. Als erster stirbt der Reverend, mit einem roten Halstuch – eben einem indischen Tuch – erwürgt; dann der Chauffeur und Jugendfreund des jungen Lords. Die dezimierte Erbengemeinschaft ist angemessen entsetzt und kommentiert die frühen Abgänge noch eher sarkastisch. Doch mit dem Sterben ist es noch nicht vorbei. Ohne zu viel zu verraten, können wir hier sagen, dass sich die Dinge dramatisch entwickeln, so dass am Schluss nur noch drei Erben übrig sind und der Zuschauer sich fragt, wer von den Dreien es denn ist. Aber auch bei diesen drei bleibt es nicht, denn Edgar Wallace ist konsequent. Und am Schluss wird sogar noch der wirklich letzte Wille verlesen, der dann noch eine Überraschung enthält.

Wir wollen aber den Lesern dieser Zeilen nicht die Lösung verraten, sondern ihr Interesse an diesem Klassiker wecken. Renate Renken hat ihn mit Tempo und Witz inszeniert und sowohl Längen als auch Klischees vermieden. Jede Figur entwickelt hier ihr eigenes Profil, wobei vor allem Gabriele Reinitzers überkontrollierende Lady Lebanon als auch Bettina Kochs Mrs. Tilling zu nennen sind. Letztere kehrt ihren Hass auf ihren selbstherrlichen Mann (Rainer Poser) mit überzeugendem Bauchgefühl heraus, und Rainer Poser zahlt mit gleicher Münze auf machohafte Weise zurück. Jens Hommola spielt einen zwielichtigen Arzt Amersham, der angeblich in Indien noch einige Leichen im Keller hat und erst posthum rehabilitiert wird, und Mike Brendt gibt einen musikalisch begabten aber von der Mutter unterdrückten Junior-Lord, der im wahrsten Sinne des Wortes leid tun kann. Axel Raether verleiht dem Butler Bonwit eine doppelbödige Grantigkeit, die die bissige Kritik an den Zuständen im Schloss mit vordergründiger Loyalität zur Herrschaft kaschiert.

Die Darsteller der wenigen „Guten“ haben es dann naturgemäß schwer gegen ihre „bösen“ Kollegen. So spielt Vivien Pantea Seifert die reizende Isla überzeugend, aber diese zeigt halt keinerlei bösartigen Charaktereigenschaften und eignet sich damit vor allem als zukünftige Lebenspartnerin des Ermittlers, was hier jedoch nur am Rande thematisiert wird. Und Stefan Peschek spielt den ermittelnden Tanner denn auch als distanziert auftretenden Familien-Externen.

Die Neue Bühne präsentiert mit dieser Inszenierung wieder einen abwechslungsreichen und unterhaltsamen Theaterabend und dürfte damit im Winterprogramm auch wieder für einen vollen Saal sorgen.

Frank Raudszus

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