Dieses Buch mit dem Untertitel „Warum der Osten anders bleibt“ war ursprünglich als Teil des Buches „Triggerpunkte“ geplant, wurde vom Autor jedoch in eine eigene Publikation ausgelagert, da es den Rahmen des ursprünglichen Wirtbuches gesprengt hätte. Das stimmt in doppelter Hinsicht, denn neben seinem Umfang ist es im Gegensatz zum wissenschaftlich datenorientierten „Triggerpunkte“ in erster Linie ein politisches Buch. Mau interpretiert hier weniger Umfrageergebnisse, obwohl diese natürlich auch punktuell erwähnt werden, erforscht stattdessen die historischen und (gesellschafts-)politischen Ursachen der heutigen Situation in den immer noch „neuen“ Bundesländern und entwirft am Ende sogar handlungsweisende Vorschläge für eine Veränderung der heutigen Gegebenheiten.
Die Ursachenforschung setzt bereits lange vor der Wende an. Mau sieht eine Sozialisation auf ein autoritäres System, das alles regelt und – angeblich – den Willen des Volkes beachtet. Gleichzeitig, und das zeigt ein Stück weit das Surreale der Realität, hat die Bevölkerung der DDR sich ein tiefes Misstrauen gegenüber eben dieser allsorgenden Regierung und damit allen Obrigkeiten antrainiert. Nach der Wende kam es dann zur ersten Demütigung, als alle SED-Kader entmachtet und damit sozial entwertet wurden. Ihnen folgten die Arbeitslosen der Entlassungswellen seitens der Treuhand, die wiederum schwere persönliche Abwertungen erfahren mussten. Dass diese sozialen Abstürze trotz – teilweiser großzügiger – finanzieller Kompensation ihre Spuren hinterlassen würden, hätte eigentlich damals schon klar sein müssen.
Dass es keine Rebellion der Jugend gegen die ältere Generation wie bei den „68ern“ gab, erklärt Mau damit, dass einerseits die junge Intelligenzia ab 1990 massiv in den Westen auswanderte, und andererseits damit, dass die verbleibende Jugend sich mit der sozial gedemütigten Elterngeneration solidarisch erklärte und deren Deutungsmuster übernahm. Dass die intellektuelle Oberschicht der jungen Generation bereits gegangen war, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben.
Dass die über Jahrzehnte andauernde Abwanderung der jüngeren Leute gravierende demographische Folgen zeitigte, liegt auf der Hand, und Mau weist explizit darauf hin, dass vor allem die Landbevölkerung sich eher in der unteren Hälfte der Einkommens- und Bildungsskala bewegt. Das führt auch dazu, dass die Reaktionen auf politische Situationen und Änderungsdruck eher emotional als rational gesteuert sind. Das Ganze ist von einer „Ossifikation“ geprägt, mit der hier kein Wortspiel, sondern der medizinische Begriff einer irreversiblen Verknöcherung gemeint ist.
Mau weist auch darauf hin, dass die ostdeutsche Identität, die faktisch so nicht existiert, dennoch im Osten zunehmend aus Trotz und ohne detaillierte Definition gepflegt wird, um sich von dem vermeintlich dominierenden und kolonisierendem Westen abzusetzen. In diesem Zusammenhang konstatiert Mau auch eine Abnahme der westlichen Fokussierung auf den „Osten“ und – im Sinne kommunizierender Röhren – eine Zunahme der östlichen Fokussierung auf den Westen, die sich jedoch als Enttäuschung und – teilweise aggressive – Abwehr der vom Westen übergestülpten „Werte“ äußert. Das führt dazu, dass die herkömmliche Parteienlandschaft (des Westens) abgelehnt wird und jede Protestbewegung fast schon bejubelt wird. Dabei konnte Mau den schnellen Erfolg des BSW noch gar nicht erahnen und bewerten, womit ihm nur die AfD als Bezugspunkt dient.
Die erwähnte Ossifikation führt laut Mau zu „Allmählichkeitsschäden“ (Wortschöpfung des Autors), die sich bis zu einer offenen Absage an die Demokratie mit allen politischen Folgen auswachsen können. Mau betrachtet das nicht nur als eine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern vor allem als ernsthafte Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung und geht damit nahtlos ins politische Engagement über, wenn auch ohne jegliche Polemik. Doch kann er sich nicht verkneifen, in den durchaus berechtigten Rufen nach Partizipation und Gehörtwerden auch eine unmittelbare Durchsetzungsforderung wie bei trotzigen Kindern zu sehen. Das demokratische Aushandeln unterschiedlicher Interessen mit dem Ziel eines Kompromisses wird dabei zugunsten einer unbedingten Erfüllung der eigenen Forderungen abgelehnt.
Die politische Agenda dieses Buches besteht darin, dass Mau am Ende konkret die Einrichtung der vielerorts geforderten „Bürgerräte“ vorschlägt, wobei er Legitimationsfragen und Demagogiegefahr durchaus nicht unterschlägt. Er sieht in diesen Räten jedoch eine Möglichkeit der echten Partizipation und damit der Heranführung verlorengegangen geglaubter Schichten an demokratische Gepflogenheiten, und das klingt durchaus nachvollziehbar. Vor allem muss man ihm zustimmen, wenn er eindringlich davor warnt, die ostdeutsche Entwicklung im Sinne eines „weiter so“ zu bagatellisieren.
Dieses Buch ist nicht nur den Lesern der „Triggerpunkte“ alks Ergänzung zu empfehlen, sondern allen, die sich für die Entwicklung in den ostdeutschen Ländern – und unser aller Zukunft! – interessieren. Es ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 167 Seiten und kostet 18 Euro.
Frank Raudszus
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