Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

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Der Titel des neuen Erzählungsbands von Saša Stanišić klingt witzig, ironisch und unkonventionell. Das hat mich neugierig gemacht, und ich wurde nicht enttäuscht.

„Möchte die Witwe angesprochen werden, …“ ist zwar die Titelgeschichte, aber nicht die erste, sie reiht sich vielmehr ein in Erzählungen von Menschen in besonderen Situationen, jungen wie älteren, von Hoffnungen und Träumen, von Möglichkeit und Wirklichkeit.

Den Rahmen bilden vier 16-jährige Jugendliche, alle mit Migrationshintergrund, wenn man auch eine DDR-Kindheit als Migrationshintergrund gelten lässt. Jedenfalls tun das die vier Jungs. Es ist kurz vor den Sommerferien 1994 in den Weinbergen von Heidelberg. Sie vertreiben sich die Zeit mit Steine-Werfen und denken dabei nach über ihre Lebensaussichten. Eigentlich haben sie alle schlechte Karten. Einer kommt dann auf die Idee, dass es einen Probenraum – oder auch Anprobenraum ­ – für die Zukunft geben müsste, in dem man 10 Minuten aus seinem zukünftigen Leben sehen könnte.  Das müsste man wiederholen können, um verschiedene Möglichkeiten der Zukunft erfahren zu können. Sie stellen sich vor, dass das auch bei negativen Entwürfen positive Auswirkungen auf ihr Verhalten haben müsste, als Ansporn, alles so gut wie möglich zu machen.

Die letzte Erzählung greift diese Idee wieder auf: Den Probenraum gibt es nun tatsächlich. Die Jungs, nun 9  Jahre älter, lassen sich ihr weiteres Leben zeigen. Das ist ganz anders als erwartet. Auch Gisel, die Witwe aus der Titelgeschichte, lässt sich einen Ausschnitt zeigen, den sie aber gar nicht will. Das System funktioniert sogar in der Vergangenheit. Der 22-jährige Heine sieht sich auf Helgoland, will aber nach Paris, dem nationalistischen Deutschland entfliehen.

Stanišić lässt  seine Figuren verschiedene Lebensmöglichkeiten durchspielen. Die „Traumnovelle“ erzählt von Dilek, der türkischen Putzhilfe in Deutschland, die als 13-jährige mit ihrer Tante hätte aus dem Dorf in die Stadt gehen können und ein ganz anderes Leben aufbauen können. Traum einer anderen Biografie und die Wirklichkeit stehen in starkem Kontrast nebeneinander. Der Traum hilft ihr, jetzt vielleicht eine eigene Entscheidung zu treffen, die ihrem Leben noch einmal eine andere Wendung geben könnte.

Der 16-jährige Saša erfindet einen Helgoland-Urlaub, um seinen Freunden imponieren zu können. Als Erwachsener spielt er bei einem tatsächlichen Helgoland-Besuch durch, wie es hätte sein können, wenn er wirklich da gewesen wäre. Auch hier vermischen sich Wirklichkeit und Fantasie auf sehr eigentümliche Weise.

Drei Geschichten erzählt der 40-jährige Georg Horvath, der sich selbst als Vater, als Ehemann, als Justiziar in einem Unternehmen spiegelt. In der Beziehung zu dem inzwischen 8-jährigen Sohn verhält er sich selbst wie ein Kind, das nicht verlieren kann. Er selbst ist offenbar derjenige, der nicht richtig erwachsen werden will, vielmehr versucht er, die Welt mit Kinderaugen neu zu entdecken. Immer wieder kommt er in Situationen, in denen er als reflektiert erziehender Vater  gefragt ist, tatsächlich aber genau das Gegenteil tut, geradezu in Rebellion gegen den Optimierungsdruck in der Pädagogik wie auch in der Arbeitswelt. Mit einem lachenden Auge entlarvt Stanišić die scheinbare Modernität und Fortschrittlichkeit kommunikativer Strategien, wenn sie sich mit Anglizismen kaschieren. Was ist wirklich der Unterschied,  ob ich von „Problemen“ oder von „Solutions“ spreche? Was ist neu an dem Begriff „Growth Mindset“, wenn ich ihn als Flexibilität und Aufgeschlossenheit im Denken und Handeln übersetze?

Die drei amüsanten Erzählungen zu Georg, Sohn Paul und Ehefrau Regina sind ein Appell, sich selber mehr zu vertrauen, statt ständig auf irgendwelche Podcasts und Ratgeber zu hören und sich dadurch verunsichern zu lassen.

In „Gründe einer Verspätung“ geht es um vier Freunde in den frühen Zwanzigern, die sich regelmäßig zum Doppelkopf treffen. Ort der Handlung ist ausgerechnet Winsen an der Luhe, tiefste niedersächsische Provinz. Aber auch hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Mo, ein ziemlich verpeilter Typ, der nirgends richtig Fuß fasst, erfindet sich ständig neu. Er erzählt jedes Mal eine neue Geschichte von sich. Das ist Stegreif-Literatur als Spiel mit Möglichkeiten. Seine Kumpels spielen das Spiel mit, es ist auch für sie ein Weg aus ihrem begrenzten Alltag hinaus, wenn auch nur für kurze Zeit.

Stanišić lässt nicht nur seine Figuren mit der Wirklichkeit spielen, er spielt auch selbst mit der Rolle des Autors und des Erzählers. So lässt er etwa den Erzähler aus seiner fiktionalen Welt heraustreten und die Leserinnen und Leser direkt ansprechen. Auch so kann man, wie im epischen Theater, mit Wirklichkeit und Möglichkeit spielen.

Besonders raffiniert macht  Stanišić das in der Erzählung „Es pfeift der Wind bei hohler See“. Hier verfolgt der Ich-Erzähler Saša den Autor beim Verfassen  der Helgoland-Geschichte. Die Figur selbst tritt also aus dem erzählten Raum heraus und kommentiert, was der Autor tut, wo er eine Fassung verwirft, wo er banal ist oder einfach schlecht ist. Die Figur wird damit zum Rezensenten der Geschichte. Dieses Spiel ergibt sich aus der verrückten Konstellation, dass der Ich-Erzähler auf die Insel kommt, auf der er angeblich nie gewesen wird, von der Inselwirtin jedoch als derjenige identifiziert wird, der vor Jahrzehnten das Schild vom Inselkrug geklaut hat. Das literarische Spiel vermischt ständig die Ebenen von Realität und Fiktion, so dass die Leserin schließlich gar nicht mehr weiß, welches die „wahre“ Geschichte ist. Oder gibt es die eben gar nicht? Und welchen Stellenwert haben Erinnerungen? Können wir denen überhaupt trauen? Sind sie nicht vielmehr Vorstellungen unserer jeweiligen Autofiktion, wie unser Leben auch hätte sein können?

Stanišić stößt uns mit seinen Erzählraffinessen immer wieder in diese Unsicherheit des Verstehens. Eindeutigkeit gibt es nicht, wir interpretieren uns unser Leben gerne schön, sind also Autoren unserer Lebensgeschichte, erzählen die Geschichten in verschiedenen Varianten. Der Erzählungsband ist ein großes Plädoyer für Literatur, die uns Offenheit und auch Unsicherheit abverlangt und uns herausfordert, unterschiedliche Möglichkeiten zu sehen und zu akzeptieren, statt auf einfache Lösungen und Scheinsicherheiten zu hoffen.

Lesen Sie „Möchte die Witwe angesprochen werden, …“ also mit offenem Geist und mit der Bereitschaft zum Schmunzeln, aber auch zum Irritiert-Sein. Es lohnt sich, genau zu lesen, auch ein zweites Mal zu lesen. Das erhöht das Vergnügen, denn vieles überliest man  leicht beim ersten Durchgang. Und unbedingt zu Ende lesen, denn der Schluss stellt den Bezug zum Anfang her und wirft neue Fragen auf. Sehr raffiniert!

Das Buch ist im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Es hat 256 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost

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