„Habe nun, ach, der Geister Bahn …“

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Goethes „Faust“ gehört in der Version „der Tragödie erster Teil“ – noch! – zum Repertoire deutscher Theater, während eine Gesamtinszenierung beider Teile seit je Seltenheitswert besaß. Man denke an Castorfs einundzwanzig Stunden an der Berliner „Volksbühne“, die sich wegen des entgrenzten Bühnenverständnisses nur hartgesottene Theater-Nerds zu Gemüte führten.

Doch es gibt noch mutige Intendanten, die sowohl den Aufwand als auch die Shitstorms vermeintlicher Avantgardisten – „man kann heute (bildungsbürgerlichen) Klassiker nicht mehr auf die Bühne bringen“ – nicht fürchten. So hat sich das Schauspiel Frankfurt bereits vor über zwei Jahren für eine solche Gesamtinszenierung entschieden und dieses so lange vorbereitete Projekt jetzt mit der Premiere gekrönt. Intendant Anselm Weber sprach bei der Einführung von Kürzungen, und die waren bei einer Verdichtung auf vier Stunden – einschließlich zweier Pausen – wohl auch dringend nötig. Dass dies für den ersten Teil einen Schnelldurchlauf von etwas über einer halben Stunde Dauer zur Folge hat, muss man erst einmal verdauen.

Ensemble
Foto: Thomas Aurin

Während das Publikum noch seine Plätze einnimmt, beginnt im Rückraum der völlig leeren Bühne eine Putzfrau im klassischen Putzkittel, den Boden zu wischen. Spontan denkt der naive Besucher, es handle sich um die Beseitigung letzter Spuren des Aufbaus nicht vorhandener Kulissen, doch die Beharrlichkeit der putzenden Person führt schnell zum Umdenken. Dann erkennt man unter der kurzen Perücke das Gesicht Wolfram Kochs, laut Programmheft Darsteller des Mephisto. Er beginnt mit gleitendem Übergang vom Putzkraft-Habitus zur transzendenten Instanz mit dem „Prolog im Himmel“, die beiden „Wett-Bewerber“ stimmlich unterscheidend: göttlicher Bass gegen luziferische Schärfe.

Damit ist der Grundtenor dieser Inszenierung gesetzt: statt klassischer Erhabenheit die Schrägheit und – ja: der Lärm des niederen Alltags. Dramaturgie und Regie (Jan Christoph Gockel) wundern sich zu Recht über die schäbige Art des Allmächtigen, mit seinem abtrünnigen Antipoden eine Wette auf Kosten des angeblich so geliebten Menschen abzuschließen, und schließen daraus, dass die Welt – frei nach Goethes Vorgänger aus Stratford – ein einziger Jahrmarkt mit großem Geschrei und Betrug ist. 

Wolfram Koch mit Faust-Puppe; Foto: Thomas Aurin

Also findet die Inszenierung auch in einem solchem Ambiente statt. Aus dem Bühnenrückraum wandert ein drehbares Ensemble nach vorne, dass neben einem marktschreierischen Geisterbahnportal samt Besucherwagen noch weitere bauliche Elemente wie Rampen und funkelnd leuchtenden Durchgängen enthält – eben ein Jahrmarkt mit plakativer Selbstdarstellung und all seinen Widersprüchen.

Faust tritt in dieser Inszenierung nicht als personifizierter Darsteller, sondern als lebensgroße Gelenk-Puppe mit grauem Leib und Altmännergesicht auf. Geradezu professionell haucht ihm Wolfram Koch – als Gott und/oder Teufel – Leben ein, bis er sich langsam mit Kochs händischer Hilfe zum irdischen Dasein aufrichtet. Fortan wird er von verschiedenen eng mit der Puppe verbundenen Darstellern gesteuert und bewegt sich dadurch fast lebensecht über die Bühne. Allerdings verzichtet die Regie bewusst auf eine plakative Realitätsnähe, weil sie einerseits das Marionettenhafte der Figur Faust – Opfer der göttlichen bzw. teuflischen Steuerung – und andererseits den archetypischen, fast schon klischierten Charakter des egomanischen Forschers zeigen will. Dabei betrachtet die Regie diesen Forschertyp wiederum nicht als singulär, sondern als typisch für die Gattung Mensch bzw. Mann.

Gretchen kommt in dieser Turbofassung von „Faust I“ wie E.T.A Hoffmanns Puppe Olympia daher, die ihr Lieb´ und Leid mit abgehackten Bewegungen vorträgt, bewusst auf emotionale Solidarisierung des Publikums verzichtend. Im zweiten Teil wird sie in Gestalt von Lotte Schubert noch einmal auferstehen, um aus der Sicht einer heutigen jungen Frau in einem eindringlichen Monolog mit der Faust-Puppe abzurechnen.

Ensemble
Foto: Thomas Aurin

Die körperliche Darstellung der Figuren und die Präsentation der Goethe´schen Texte sind dabei weitgehend entkoppelt, wobei die optische Darstellung pantomimisch mit archetypischem Charakter erfolgt, während die Sprache vom Tonträger kommt. Dabei setzt die Regie bereits im ersten Teil Bildschirme ein, auf denen die Szenen dem Publikum im wahrsten Sinne des Wortes nahegebracht werden. Dabei spielen sich diese Szenen im Castorf´schen Sinne live in den Kulissen ab, und Übergänge in die Bühnenrealität sind bewusst nachvollziehbar. So ergibt sich ein multimediales Spektakel aus körperlich verzerrter Bühnenpräsenz, emotionaler Pantomime im Videoclip, gesprochenen Texten aus dem Lautsprecher und musikalischer Untermalung mit Unterhaltungsmusik verschiedener Provenienz, gerne Swing-Titel aus den Dreißigern mit textlichem Bezug auf die jeweilige Szenerie.

Nach Gretchens Ende – „ist gerettet“ – und der Pause beginnt der zweite Teil in „anmutiger Umgebung“ – als Live-Video vom Vorplatz des Theaters, wo die Hauptdarsteller verwundert die auf den Stufen vor der Straßenbahn angelegte Faust-Puppe finden und das Laufpublikum scheinbar naiv dazu befragen. Den Live-Charakter dieses „Faust-Happenings“ erkennt man, wenn die Darsteller – der Kaiser mit seinem Tross – in genau diesen Kostümen die Bühne betreten. Dort spielt sich jetzt die episch-utopische Deklination der weltlichen Themen ab, beginnend mit Mephistos hinterlistiger Erfindung des teuflischen weil süchtig machenden Papiergeldes. Es folgen die Erfindung des Homunkulus – hier beispielhaft an der Faust-Puppe – und schließlich die Rückholung Helenas aus der Antike zwecks Befriedigung von Fausts Egomanie. Dabei ist Helena als KI-gesteuerter Cyborg ausgelegt, der*die gelegentlich in fehlerhafte Dauerschleifen verfällt und von Dr. Wagners alias Andreas Vögler per Handbohrer repariert werden muss. Mit der Geburt Euphorions entwickelt sich diese KI-Helena zu einem empathischen Wesen, das sich nach Euphorions frühem Tod ebenfalls ins Jenseits verabschiedet. Es bleibt ein gebrochener Faust, der sich an Mephistos Seite durch die letzten utopischen Projekte quält, unter Mephistos Zynismus gegenüber Philemon und Baucis leidet und sich am Schluss einer sibyllinischen Version des berühmten Schlussverses gegenüber sieht: „wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ mit dem nicht ausgesprochenen Zusatz „… müssen wir aber nicht“. Mit diesem vagen Ende erteilt diese Inszenierung dem Zukunftsoptimismus Goethes und damit der real existierenden Menschheit eine halbe Absage.

v.l. Torsten Flassig, Melanie Straub, Andreas Vögler
Foto: Thomas Aurin

Der zweite Teil reduziert den plakativen Jahrmarktseffekt zugunsten einer effizienzorientierten Managementatmosphäre. Wolfram Kochs Mephisto, der im ersten Teil noch ganz „traditionell“ im teuflischen Anzug mit Hörnern, Pferdefuß und Schanz sowie mit wehendem roten Umhang daherkommt, erscheint jetzt in Anzug und Krawatte und erfüllt Fausts Wünsche mit kühler Sachlichkeit, immer den Gewinn seiner Wette mit Gott im Kopf. Da ist Jahrmarktsatmosphäre eher hinderlich, und die märchenhaft-teuflische Umgebung des ersten Teils ad acta gelegt. Folgerichtig spielt Faust hier nur noch eine zuschauende Rolle, was sein Puppenspieler mit resignierenden Hand- und Kopfbewegungen der Puppe eindringlich markiert. Dieser ewig strebende Individualist, Ideal vergangener Aufklärungsepochen, gehört zum alten Eisen und kann der stürmischen Entwicklung nicht mehr folgen. Übereinstimmungen mit heutiger Finanz-, Militär- und KI-Politik sind natürlich rein zufällig und gar nicht beabsichtigt.

Der zweite Teil leidet, wie jeder „Faust“-Kenner weiß, ein wenig unter der Gedankenlastigkeit und dem Mangel an nicht-metaphorischer Handlung. Da kommen schon einige Längen auf, die das Ensemble allerdings immer wieder durch humoristische und ironische Einwürfe auflockert. Manche dieser Szenen entwickeln sich auch unfreiwillig, so wenn Mephisto-Koch verzweifelt auf die Bewegung der altersschwachen Drehbühne wartet und die ungeplante Pause mit allerlei deklamatorischem Kunstwerk überbrückt; oder wenn der Puppenspieler stolpert und mit der Puppe am Boden zappelt, bis die Souffleuse die beiden rettet und spontan einen Handkuss vom alten, grauen Faust erhält; oder wenn bei seinem Flug mit Faust durch die Wolken die Videoanlage mehrfach ausfällt und Mephisto-Koch zwar skeptisch sein Alter erwähnt, aber dennoch einen zweiten Flug anbietet. Diese Szenen zeigen exemplarisch die Präsenz des Ensembles, allen voran Wolfram Koch, in schwierigen Situationen und das auch noch nach fast vier Stunden.

Lotte Schubert mit Faust-Puppe
Foto: Thomas Aurin

Es ließe sich noch viel über diese tempo- und ideenreiche Inszenierung des Gipfels deutscher Theaterkunst erzählen, etwa die vielen, bisweilen altbackenen humoristischen Einlagen, doch das würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Die multimediale Show fiktiver Geister in Mythos und Märchen sowie von Geistern der (deutschen) Geistesgeschichte ist viel zu reichhaltig und vielfältig, als dass man sie beim ersten Besuch voll erfassen könnte. Daher empfehlen wir jedem Liebhaber des Theaters und vor allem des „Faust“-Dramas, sich dieses Spektakel nicht entgehen zu lassen. Nur sollte er oder sie sich von herkömmlichen Vorstellungen einer Bühnenrealisierung verabschieden.

Das Premierenpublikum bedankte sich nach vier anstrengenden, aber kurzweiligen Stunden mit kräftigem, wenn nicht gar begeistertem Beifall bei Ensemble und der Regie.

Frank Raudszus

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