In der letzten Dekade hielt man es an deutschen Theatern für „uncool“, wenn nicht gar peinlich, einen sogenannten Klassiker von Shakespeare oder Schiller mehr oder minder im Original zu inszenieren. Diese Werke galten als abgespielt und spiegelten angeblich die heutigen Probleme nicht angemessen wider; sie konnten höchstens als Vorlagen für frei gestaltetes Regietheater herhalten. Durchaus sehenswerte Beispiele wie „Prince of Denmark“ als Hamlet-Verschnitt oder Schillers „Wilhelm Tell“ waren am Staatstheater Darmstadt zu sehen.
Nun hat jedoch die Regisseurin Mizgim Bilgin am Staatstheater Darmstadt Shakespeares „Macbeth“ gleich zu Saisonbeginn geradezu paradigmatisch in einer urwüchsigen Form inszeniert. Obwohl Bühnenbild und Beleuchtungseffekte deutliche heutigen Ursprungs sind, kann man sich vorstellen, dass Shakespeare sein Stück selbst so inszeniert hätte: schlackenlos, von allen Modernismen gereinigt und reduziert auf die elementaren menschlichen Triebe und Emotionen. Hier feiert die moralische Entgrenzung in Gestalt von Machtgier und Mord wahre Triumphe, und ihr getreues Pendant, das tief sitzende Schuldgefühl, steigert sich parallel dazu bis hin zum Wahnsinn und zur Selbstaufgabe. Intellektuelle Distanzierung, theatrale Selbstreferenz und Ironie haben da nichts mehr zu suchen. Die Hölle – das ist der Mensch: so lautet die ungeschminkte Botschaft dieser Inszenierung, getreu der ursprünglichen Aussage, die vielleicht auch auf den Publikumsgeschmack abzielte, sicher aber einem zutiefst menschlichen Erfahrungsschatz entsprach.
Die Regie geht dieses Stück mit rigorosem Aufbrechen der Aufführungsgewohnheiten an. Das Stück spielt sich zwar auf der Bühne des Großen Hauses ab, doch das – zahlenmäßig stark beschränkte – Publikum sitzt am Ende der Bühne mit Blick auf die leer gähnenden Zuschauertribünen. Doch letztere sieht man zu Beginn nicht, da über dem schwarzen Bühnenboden der dichte Nebel des schottischen Hochlandes wabert, aus dem sich langsam die drei Hexen herausschälen. Doch bereits hier setzt die Regie einen „Stopper“ vor eine zu naiv-historische Interpretation. Die drei wahrsagenden Gestalten sind nämlich nicht als Klischee-Hexen mit Zottelhaaren, sondern als drei heutige Personen mit unterschiedlichem Habitus angelegt, die ihren Prophezeiungen einen marktschreierischen, grell-persiflierenden Grundton verpassen. Hexen im mythischen Sinne stellt man sich so nicht vor.
Ähnlich die handelnden Personen, die nicht historisiert werden, sondern als förmlich aus dem mythischen Boden aufsteigende Archetypen erscheinen. Die Kostüme erweisen sich bei genauem Hinsehen als heutige Alltagskleidung – Jeans und Pulli -, doch die nahezu schwarze Färbung lässt sie wie archaische Kampfanzüge erscheinen. Gerade durch diese fehlende historische Zuordnung werden sie zu singulären Figuren mit paradigmatischem Charakter. Ob nun Macbeth oder Banquo, MacDuff oder Duncan, jeder dieser Protagonisten verkörpert in gewisser Weise den Mythos seiner eigenen Rolle.
Das Bühnenbild von Sabine Mäder verstärkt die Wucht der Figuren durch Schlichtheit und Schwere gleichermaßen. Über dem schwarzen Bühnenboden schwebt ein überdimensionaler Spiegel, der mit langsamen Drehungen den Bewegungen der Protagonisten folgt und ihre Handlungen gnadenlos zurückspiegelt. Die Schwere und die bedrohliche Nähe dieses raumfüllenden Geräts materialisieren das unentrinnbare Schuldbewusstsein der beiden Hauptpersonen: MacBeth (Niklas Herzberg) und Lady Macbeth (Irina Wrona). Bei den Morden senkt sich ein Teil der Bühne ab und zeigt die orange glühenden Wände der imaginierten Hölle, und im Spiegel sieht man die hingestreckten Körper der Toten.
Zusätzlich erscheinen in ausgewählten Szenen Video-Clips auf der Bühnenrückwand, die bestimmte Szenen virtualisieren. Dabei wird nicht klar, ob das „live“-Szenen aus den Kulissen oder vorgefertigte Clips sind. Die Regie lässt das offen und die Darsteller nicht aus dem Clip auf die Bühne steigen. Offensichtlich soll hiermit durch Großaufnahmen noch einmal die Wirkung gesteigert werden.
Konsequent ist die Regie auch wieder zum klassischen Versmaß zurückgekehrt. Die Sprache wurde behutsam modernisiert, aber ohne jegliche falsche Saloppheit oder gar Jargon – sei er nun lakonisch, sarkastisch oder gar zynisch. Inhaltlich bemüht man sich um die Wiedergabe der elementaren Triebe und Emotionen und verzichtet auf jeglichen ironisierenden Ansatz. Regie und Darsteller beherrschen die Kunst, mit dieser rhythmisierten Sprache glaubwürdig und ohne jegliche Distanzierung die geistig-emotionale Welt Shakespeares wiederaufleben zu lassen. „The whole world´s a stage“ wird hier wahr.
Die darstellerischen Leistungen verdienen eine ganz eigene Bewertung, denn hier geht es nicht um eine möglichst vielfältige und variantenreiche Darstellung komplexer Charaktere, sondern um die Fokussierung, ja: die Verwandlung in (macht-)besessene Menschen. Einmal begonnen, setzen Macbeth und seine Frau Mordpläne rücksichtslos um, und gerade ihr Wissen um eine drohende Rache lässt sie geradezu in den eigenen Untergang taumeln. Nicht mehr der mögliche Genuss der Macht steht im Vordergrund, sondern der Kampf bis zum Ende, da die mörderische Selbsterhöhung Verhandlungen oder gar Reue nicht zulassen. Hier geht es wahrlich um alles oder nichts. Irina Wrona und Niklas Herzberg ziehen das derart konsequent durch, dass der offensichtliche und der ansatzweise Irrsinn beider Figuren am Ende geradezu zwangsläufig erscheint. Und so schreit Irina Wrona als Lady Macbeth ihren schuldbeladenen Wahnsinn nicht heraus, sondern erzählt ihn ihrer zum eingebildeten Säugling gewickelten Wolldecke.
Die anderen Figuren müssen bei dieser Inszenierung ein wenig zurücktreten, da sie eher rational handeln und nicht diesen psychischen Extremen ausgesetzt sind. Marcus Hering als Banquo und Florian Donath als MacDuff füllen ihre Rollen zwar aus, aber eher mit knappem Spiel, um die Aufmerksamkeit nicht von dem Mörderpaar abzulenken. Das ist jedoch keine Frage der Darstellungskunst, sondern der Regie, die diese Figuren weitgehend auf ihre Handlungsfunktionen beschränkt. Das verleiht der Inszenierung ihre Dichte und Wucht. Allerdings erfordert dies ein Publikum, dass sich auf diese Höllenfahrt einlässt. Man kann nur hoffen, dass es dieses Publikum nach all den Klassiker-Ironisierungen noch gibt.
Frank Raudszus
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