Wer sich noch nie mit den Hexenverfolgungen im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit beschäftigt hat, wird Rivka Galchens Roman „Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist“ mit Gewinn lesen. Die US-amerikanische Autorin erzählt die Geschichte der über 70-jährigen Katharina Kepler aus Leonberg, der Mutter von Johannes Kepler, die aus Boshaftigkeit von einer Mitbürgerin der Hexerei bezichtigt und schließlich verhaftet wird. Erst nach einem mehrjährigen Prozess, der 1615 beginnt, wird sie nach erbarmungswürdigen Haftbedingungen freigesprochen.
Rivka Galchen erzählt diesen offenbar gut dokumentierten Prozess auf drei verschiedenen Erzählebenen. Die Zeit zwischen der Anklage und der Verhaftung lässt sie Katharina nutzen, um ihrem Nachbarn Simon die ganze Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Katharina selbst kann weder schreiben noch lesen, deshalb bittet sie Simon, ihre Geschichte aufzuschreiben. Simon ist ganz auf ihrer Seite und erklärt sich auch bereit, als ihr rechtlicher Beistand vor Gericht aufzutreten.
Parallel zu Katharinas Erzählungen fügt Simon seine eigene Sicht der Ereignisse in Katharinas Bericht ein. Er lebt als Sattler zurückgezogen mit seiner von Blattern entstellten Tochter. Ihm ist es wichtig, ein „wahres“ Bild von Katharina zu zeichnen, das ihr Wissen um Heilkräuter und ihre große Hilfsbereitschaft für Menschen in Not hervorhebt, aber auch ihre Eigenwilligkeit und Eigenständigkeit. Er selber hat es erfahren, als sein Haus durch eine Überflutung teilweise zerstört war und sie ihm tatkräftig zur Seite stand.
Eine dritte Erzählebene besteht aus den Gerichtsprotokollen von den Verhören und Befragungen, die in der Anlage der Fragen den authentischen Gerichtsprotokollen entsprechen.
Hinzu kommen Archivdokumente: die Bittschreiben Johannes Keplers an den Senat von Leonberg und an den Fürsten von Württemberg, die Gesuche des anklagenden Ehepaars an den Fürsten sowie das Schlusswort der Anklage. Alle Dokumente sind aus dem Lateinischen übersetzt.
Rivka Galchen gelingt es auf diese Weise, die Persönlichkeit der Katharina sichtbar zu machen. Sie scheint eine für ihre Zeit sehr selbstbewusste Frau gewesen zu sein, die als Witwe ihr Leben selbständig in die Hand nahm, aktiv in ihrem sozialen Umfeld gewirkt hat und sehr geschätzt wurde.
Die Geschichte der Katharina Kepler zeigt aber auch, wie schnell ein sozialer Status sich wandeln kann, wenn Missgunst und Neid im Spiele sind. Die Instrumentalisierung des Hexenglaubens für Vernichtung von unliebsamen Menschen, meist Frauen, ist sattsam bekannt, wird aber in diesem Roman sehr anschaulich entwickelt. Sich gegen den Vorwurf der Hexerei zu wehren, war fast unmöglich. Bekannte eine Frau sich unter Folter schuldig, war das Urteil ohnehin klar; widerstand sie aber der Folter und beteuerte ihre Unschuld, zeigte das für die Ankläger einmal mehr, dass sie zurecht als Hexe angeklagt war, denn Widerstand konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.
Im Zentrum steht die auch heute noch oft schwierige Rolle der starken, selbstständigen Frau, die bei den eigenen Geschlechtsgenossinnen Neid- und Abwehrgefühle heraufbeschwören können. Was frau eigentlich selbst gerne wäre, bekämpft sie bei der anderen. Der aus einer ersten Bezichtigung entstehende verleumderische Strudel in der Stadt gleicht dem heutigen Shitstorm. Die einmal aufgehetzte Menge ist für sachliche Argumente gar nicht mehr erreichbar. So scheitert Katharina auch mit ihrem Auftritt beim korrupten und zynischen Vogt des Landesfürsten. Die Anhörungen konkretisieren diesen Sog. Es melden sich immer mehr Bürger der Stadt Leonberg, die sich plötzlich an angeblich auffälliges Verhalten von Katharina erinnern wollen. Nur wenige der Befragten haben den Mut, zu Katharina als einer respektablen Person zu stehen.
Es geht Galchen nicht in erster Linie darum, die Gräuel der Hexenverfolgungen in ihrer Dramatik darzustellen, sie vermeidet eine sensationslüsterne Atmosphäre. Sie deutet nur an, welche Methoden gängig waren, z.B. die Daumenschrauben oder das Streckbett. Dass es noch viel grausamere Methoden gab, muss sie nicht ausbreiten, das ist bekannt.
Dennoch ist Katharina ein Sonderfall. Sie hat den berühmten, gelehrten Sohn Johannes, der sich für sie einsetzt. Ihr werden die Folterwerkzeuge nur gezeigt, die andere Frauen erdulden müssen. Die tatsächliche Unmenschlichkeit der meisten Hexenprozesse gerät so etwas außer Blick. Katharina kann sich auf die Zuwendung und Treue ihrer drei Kinder verlassen. Sie tragen sie durch die schwierige Zeit. Nach dem Prozess kann sie bei der Tochter leben, denn ihr Hab und Gut ist für Gerichtskosten und Gefängniskosten eingezogen worden.
Galchen klagt eine willkürliche und korrupte feudale Ordnung an, die in ihrer hierarchischen Struktur auf jeder Ebene opportunistische und egomane Haltungen produziert, die nur am eigenen Wohlergehen, aber nicht am Gemeinwohl orientiert sind. Einen besonderen Blick wirft sie in diesem Zusammenhang auch auf die Pfarrer, auch die evangelischen. Ihr Schwiegersohn, selbst Pfarrer, hält sich heraus, will mit der verleumdeten Katharina nichts zu tun haben. Zum Schluss schafft es noch nicht einmal Simon, der treue Nachbar, ihr im Prozess zur Seite zu stehen. Im Gegensatz zu den selbstgerechten und unbelehrbaren Verleumdern wird er sich deshalb aber selbst Vorwürfe machen.
Hinzukommen die immer noch wütende Pest und andere Infektionskrankheiten sowie die Angst vor dem bevorstehenden 30-jährigen Krieg. Die Menschen sind verunsichert und umso anfälliger für Verschwörungstheorien und mythische Erzählungen, die auf angeblich Schuldige hinweisen, die als Sündenböcke herhalten müssen. Es lässt einen schaudern, wenn man darin die Bezüge zu unserer Gegenwart erkennt.
Durch die Sicht der unmittelbar Betroffenen vermag Galchen die Veränderung der sozialen Struktur im Städtchen Leonberg einzufangen. Wie eine Lawine breitet sich die Wucht der üblen Nachrede aus, nach der Wahrheit wird gar nicht mehr gefragt.
So weit ist es ein wichtiger Roman, der uns in einer Zeit moralisch aufgeheizter Empörungswellen nachdenklich stimmt. Sind wir mit unserer Aufgeklärtheit und dem wissenschaftlichen Fortschritt auch in unserer Mitmenschlichkeit wirklich fortschrittlicher als die Verleumder des 17. Jahrhunderts?
Dennoch hat mich an dem Roman etwas gestört. Es ist die Art und Weise, wie die Autorin Katharina Kepler sprechen lässt. Katharina ist zwar eine unabhängige, eigenwillige und starke Frau, aber doch völlig ungebildet, sie kann weder lesen noch schreiben. Es ist wenig glaubwürdig, dass sie ihre Geschichte in einer so differenzierten Sprache erzählt und so reflektiert ist wie eine Frau aus dem 21. Jahrhundert. Auch die Modernität im Ausdruck hat mich irritiert. Es mag daran liegen, dass die amerikanische Autorin im Englischen nicht die richtige Sprachebene finden konnte und dass die Übersetzung das dann auch nicht einlösen konnte. Möglicherweise aber benutzt die Autorin die moderne Sprache bewusst als Mittel, um die Aktualität ihres Themas bewusst zu machen. Das ergibt sich aber schon aus der Thematik selbst.
Insgesamt ein durchaus lesenswerter Roman. Wer jedoch mehr Konkretes über den Wahnsinn der Hexenverfolgung wissen will, wird hier nicht auf seine Kosten kommen. Allerdings gibt es reichlich Literatur zu dem Thema, aber es ist schwer auszuhalten, welche Grausamkeiten speziell für Frauen erdacht worden sind.
Der Roman ist in der Übersetzung aus dem Englischen von Grete Osterwald im Rowohlt Verlag erschienen, hat 316 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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