Onur Erdur: „Schule des Südens“

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Der Autor dieses Buches, seines Zeichens Kulturwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität, verfährt ähnlich wie die Verfasser von Vorträgen im „Business“-Bereich: „Sage, was Du vortragen willst, trage es vor und fasse zusammen, was Du vorgetragen hast“. Das ist nicht abschätzig gemeint, sondern soll nur darauf hinweisen, wie stark Onur Erdur auf die richtige – was immer das heißt – Rezeption seines Buches achtet. Allein die elfseitige Einleitung vermittelt bereits einen guten Überblick über den Inhalt des Buches einschließlich beiläufiger Lesetipps, und der zehnseitige Epilog, hier mit „Schluss“ übertitelt, tut das Gleiche noch einmal aus der Retrospektive einer beendeten Lektüre. Eiligen Lesern könnte man daher, – etwas ironisch – empfehlen, nur eines der beiden Randkapitel oder beide zu lesen.

Doch unabhängig von diesem auffälligen Rahmenwerk bietet das Buch eine neue und vor allem nachvollziehbare Perspektive auf die berühmte Zeit der „French Theory“, die als neues Philosophie-Paradigma der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts alle bis dahin geltenden Ideengebäude zum Wanken brachte. Namen wie Pierre Bourdieu, Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault sind nur einige Beispiele für diese Epoche. Alle in dem Buch erwähnten Philosophen – neben den vier genannten noch Jean-Francois Lyotard, Hélène Cixous, Étienne Balibar und Jacques Rancière – gelten als Vertreter der Postmoderne und der Dekonstruktion, die hergebrachte Ideengebäude wie den Marxismus oder das westliche kulturell-geistige Selbstverständnis als gescheitert betrachteten. Onur Erdur will in dem vorliegenden Buch beweisen, dass die genannten Autoren diesen radikalen Wechsel des Weltverständnisses nicht autonom im epistemischen Studierzimmer frei nach „Habe nun, ach….“ entwickelt haben, sondern dass ganz konkrete politische Ereignisse sie im Sinne eines Bruchs dazu geführt haben. Diese Ereignisse verortet Erdur in der Dekolonisierung Frankreichs, und das vor allem am Beispiel Algeriens.

Alle aufgeführten Philosophen hatten mehr oder weniger enge persönliche Kontakte zu den ehemaligen Kolonien bzw. Protektoraten Algerien, Marokko und Tunesien. Bourdieu und Lyotard erlebten den algerischen Befreiungskrieg als Soldat bzw. Lehrer in Algerien, Derrida und Cixous wurden bereits als Kinder jüdisch-algerischer Franzosen doppelt geächtet und vertrieben, Barthes und Foucoult lebten längere Zeit in Marokko bzw. Tunesien wie in einem Ferienclub, Balibar war selbst heimlicher Komplize der FLN in Algerien, und nur Rancière blieb lange Zeit trotz algerischer Herkunft schweigsam.

Erdur widmet jeder dieser Personen ein eigenes Kapitel, was zwar zu einigen historischen Redundanzen führt, aber eher im Sinne von verschiedenen Perspektiven auf die gleichen Ereignisse. Dabei erlebten gerade die beiden am meisten vom algerischen Aufstand getroffenen Personen, Cixous und Derrida, diesen selbst nur aus der Ferne, weil sie bereits im Krieg als entrechtete jüdische Kinder nach Frankreich zurückkehren mussten. Bourdieu dagegen wurde als junger Soldat in Algerien entschiedener Gegner des Kolonialismus, Lyotard erlebte die Aufstände als Lehrer in Algerien und Balibar trat sogar als kommunistischer Aktivist gegen die Kolonialmacht Frankreich auf.

Der Autor bemüht sich um eine möglichst neutrale Darstellung und hält sich mit eigenen Bewertungen zurück, was in Zeiten des „korrekten“ politischen Engagements hervorzuheben ist. Selbst die zweifelhaften Selbstdarstellungen von Foucault und Barthes, die – frank und frei – die jungen nordafrikanischen Männer und deren „exotische“ Welt genossen sowie den Kampf gegen Kolonisierung und Unterdrückung mehr als wissenschaftliche Disziplin betrieben, lösen bei Erdur eher punktuelles Befremden denn breitbrüstig vorgetragene moralische Empörung aus. Und wenn ein Rancière als gebürtiger Algerier bis in die neunziger Jahre kein Wort über den Kampf seiner Heimat verliert, dann sucht Erdur dafür Erklärungen, statt ihn der Feigheit zu bezichtigen. In der aufgeheizten heutigen Identitäts- und Korrektheitsblase – so muss man die Universitätslandschaft leider in vielen Fällen bezeichnen – fällt diese ausgewogene Darstellung angenehm auf. Erdur sucht nach Beweggründen und Motivationen und versucht diese nachzuvollziehen. Moralische Exekution aus der leichten Position des Recht habenden Nachgeborenen ist nicht seine Sache. Das soll nicht heißen, dass er die Schwächen und Fragezeichen bei Fällen wie Barthes oder Foucault nicht anspricht, doch er überlässt es dem Leser, aus den dargestellten Verhältnissen und Verhaltensweisen seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Doch unabhängig davon verdeutlicht Erdur den in den Jahren der Dekolonisierung herrschenden Rassismus – hier in Frankreich -, der allerdings als solcher in weiten Kreisen gar nicht wahrgenommen wurde, da man es für selbstverständlich hielt, dass Algerier zu der von den Kolonialbehörden missionarisch gepredigten höheren Bildung – z.B. in Gymnasien – praktisch nicht zugelassen wurden, auch wenn es offiziell keine entsprechenden Ausschlussverfügungen gab. Doch sie galten mehr oder minder als analphabetische „Berber“, für die sich westliche Bildung nicht lohnte. Erst die aufgeführten Philosophen betrachteten dies als Widerspruch und letztlich als Skandal. Die portraitierten Protagonisten nutzten dafür damals noch nicht den Rassismus-Begriff, doch Erdur spricht in dieser Beziehung Klartext.

Es versteht sich von selbst, dass Erdur die verschiedenen Theorien ebenfalls entsprechend würdigt, allerdings ohne die entsprechenden Passagen zu philosophisch-soziologischen Seminaren ausarten zu lassen. Auch auf diesem Gebiet nicht unbedingt sattelfeste Leser können sich ein Bild von den philosophischen Begriffen der „Dekonstruktion“ und der „Desidentifikation“ machen, obwohl sich letztere bei Rancière etwas schwer liest. Auch der Weg der Protagonisten von den traumatischen Erlebnissen der Dekolonisierung zur Dekonstruktion großer Ideengebäude wie der Marxismus wird in den jeweiligen Kapiteln deutlich und nachvollziehbar. Zum Teil haben das die jeweiligen Philosophen auch selbst so geäußert, bei schweigsameren leitet das Onur Erdur aus ihren Schriften ab. Nur bei Rancière bleiben bis zum Schluss viele Fragen offen. Aber auch das gehört zu einem guten Buch, dass sich nicht alle losen Fäden zusammenfügen. Schließlich handelt es sich hier nicht um einen Roman mit einem alles auflösendem Finale, sondern schlicht um eine Realität, die – vor allem in Frankreich – lange verdrängt wurde.

Das Buch ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen, umfasst 335 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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