Bei diesem Beitrag handelt es sich um keine übliche Rezension eines neuen Buches, sondern um ein paar Überlegungen anlässlich der Lektüre eines bereits etwas in die Jahre gekommenen Buches. Wolfgang Koeppen (1906 – 1996) hatte Anfang der fünfziger Jahre den Roman „Tauben im Gras“ geschrieben, der die deutsche Nachkriegszeit kritisch aufs Korn nahm. Vor allem resistenter Nazismus, Amerikanerfeindlichkeit und Rassismus spielen hier eine Rolle und zeigen deutlich, dass Koeppen einer der wenigen Schriftsteller war, die bereits zu dieser Zeit mit dem traumatischen Erbe des Dritten Reiches aufzuräumen bereit waren.
In „Tauben im Gras“ beschreibt Koeppen einen einzigen Tag in einer deutschen Großstadt, die zwar nie genannt wird, aber leicht als München zu identifizieren ist. Seine Protagonisten sind jüngere und ältere Deutsche, die alle auf ihre Weise mit Krieg und Nachkriegszeit zu kämpfen haben, sowie mehrere Amerikaner, die als Besatzungssoldaten oder Besucher mit deutscher Vergangenheit hier weilen.
Bereits die Beschränkung auf einen einzigen Tag lässt den Leser stutzig werden. Kennen wir dieses Merkmal nicht von einem der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts, James Joyces „Ulysses“? Also geht der Rezensent auf die Suche nach weiteren Analogien – und wird fündig, und das in einem derartigen Ausmaß, dass die Annahme einer bewussten Übernahme des Romankonzepts des Iren berechtigt erscheint.
Das beginnt bereits mit einer zentralen Figur, dem schwarzen US-Soldaten Odysseus Cotton, der morgens mit dem Zug eintrifft und sich mit dem lokalen Dienstmann Joseph an seiner Seite auf eine Erkundungstour durch die Stadt begibt. Der Vorname verweist zwar nur vordergründig auf Joyces „Ulysses“, aber bereits der Nachname mit seiner deutlichen Nähe zu den Baumwolle pflückenden Sklaven des 19. Jahrhunderts verweist auf den Rassismus, so wie Leopold Blooms Nachname auf das Judentum und dessen Ausgrenzung in Europa. Auch die Stationen des Tages – verschiedene Etablissements und Kneipen der Stadt – erinnern an Blooms ähnliche Reise durch das Dublin des frühen 20. Jahrhunderts. Am Ende wirft dann die Bevölkerung Steine auf den vermeintlichen Mörder Odysseus Cotton, und auch diese Steine verweisen auf eine ähnliche Szene bei Joyce.
Doch der Analogien sind noch mehr. Zu Anfang spielt der junge Dichter Philipp eine wesentliche Rolle, der von dem großen Roman träumt, aber keine Seite zustande bringt. Das kann man als ein autobiographisches „alter ego“ Wolfgang Koeppens sehen, doch auf jeden Fall erinnert es an Stephen Dedalus, den jungen Lehrer und Dichter im „Ulysses“. Und auch dort eröffnet dieser den Roman, bevor die eigentliche Hauptperson auftritt.
Natürlich ziehen sich diese Analogien nicht linear durch das Buch, denn das wäre eine einfallslose Kopie, sondern sie passen sich der ganz eigenen Handlungsstruktur von Koeppens Buch an. So kann man Frau Behrend in gewisser Weise auch als ein Pendant zu Joyces Molly verstehen, wenn sie alleine in ihrem Dachzimmer über das Leben im Allgemeinen und ihre Tochter Clara im Speziellen räsoniert, die ausgerechnet von einem anderen US-Soldaten, dem Schwarzen Washington (!) Price, ein Kind erwartet. Ein „Neger-Kind“ ist für sie die reinste Schande und öffnet der Häme der Hausbewohner Tür und Tor.
Doch Molly verteilt sich hier auf zwei Frauen. Susanne, eine Prostituierte im Bräuhaus, schlängelt sich an Odysseus heran und sieht sich als dessen Circe und Nausikaa, wie der Autor in Anlehnung an Joyces Beschreibung von Molly zum Ausdruck bringt.
Dann ist da noch Claras zehnjähriger Sohn, der seinen eingefangenen Hund unbedingt dem gleichaltrigen Sohn des zu Besuch weilenden US-Amerikaners Christopher verkaufen will. Ein Hund spielt auch bei Joyce eine zentrale Rolle.
Die deutlichste Verbeugung vor Joyce besteht jedoch im assoziativen Stil des Romans. Koeppen tritt nicht als allmächtiger externer Erzähler auf, sondern versetzt sich in die Gedankenwelt seiner Figuren und lässt dieser freien Lauf, wie es sein offensichtliches Vorbild Joyce tut. Immer wieder kreisen die Gedanken der Protagonisten um ihre Ängste, Wünsche und Sehnsüchte wie mal schnell, mal taumelnd sich drehende Kreisel. Dadurch entwickeln die Figuren eigenartig unbestimmte, rätselhafte Charaktere. Diese inneren Monologe werden dabei – wie bei Joyce – immer wieder von Schlagzeilen der Tageszeitungen unterbrochen, ohne dass diese einen unmittelbaren Bezug zu den jeweiligen Gedanken oder Handlungen aufweisen. Man stellt sich die Protagonisten bei ihrer Odyssee durch die Stadt als flüchtige Leser der ausgehängten Zeitungsschlagzeilen vor. Diese bilden dann ein raues und auch mal wirres Gemisch mit den jeweiligen Gedankengängen.
Offensichtlich war Koeppen ein großer Bewunderer von James Joyce und hat dessen Technik in seinem Stadtroman übernommen, dabei aber auf eine ganz eigene Verarbeitung geachtet. Statt eines billigen Plagiats ist daraus eine kunstvolle Adaption und Neugestaltung des Joyce´schen Romankonzepts geworden. Koeppen mag in dieser Hinsicht der erste Nachfahre Joyces gewesen sein – Der Rezensent verfügt hier über keine weitergehende Kompetenz -, aber in der späteren Literatur des 20. Jahrhunderts wurden diese Verfahren dann Allgemeingut in der Literatur.
Es wäre eine reizvolle Arbeit, die literarische Verwandtschaft dieser beiden Autoren gezielt zu untersuchen, aber vielleicht ist das sogar schon geschehen.
Frank Raudszus
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