In gewissem Sinne schließt der Soziologe Armin Nassehi in seinem neuen Buch an die frühere Publikation „Muster“ an, indem er auf die immanente Trägheit komplexer Systeme abhebt. Dieser Begriff ist jedoch hier wie dort nicht normativ geprägt, sondern beschreibt nur ein Faktum, so wie Newton bereits vor vierhundert Jahren die physikalische Massenträgheit eingeführt hat.
Ausgangspunkt des vorliegenden Buches sind die großen Grundsatzreden engagierter Aktivisten aller Couleur – Pazifisten, Klimaretter und andere -, die ihre Zuhörer zu finalem Umdenken und Verzicht auffordern. Sie erzeugen meist viel Beifall, aber wenig faktisches Echo. Das liegt für Nassehi an der immanenten Trägheit komplexer Systeme, die nur solche Änderungen erlauben, die zu gegebener Zeit mit den jeweiligen technischen, finanziellen und sozialen Mitteln erreichbar sind. Die zwangsläufige Enttäuschung der Aktivisten ist für Nassehi jedoch nur vorgespielt – und wenn sogar vor sich selbst – und dient der eigenen Entlastung nach dem Motto „Ich habe alles (Gute) getan, doch die Masse will mir nicht folgen“. Nassehi statuiert dagegen nüchtern, dass Änderungen des – privaten oder öffentlichen – Lebensvollzuges nur im Rahmen der verfügbaren Mittel möglich sind.
Dazu verweist er auf den Parallelcharakter (westlicher) demokratischer Systeme. Im Gegensatz zu vertikal hierarchischen Systemen wie dem Feudalismus, der katholischen Kirche oder den Diktaturen bestehen diese aus voneinander entkoppelten Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Zielen. Das führt bei grundsätzlichen Krisen wie der Klimakrise zu unterschiedlichen Sichtweisen und Lösungsvorschlägen. Bei der Klimakrise wären das zum Beispiel technologische Entwicklungen versus Verzicht. Da das grundlegende Prinzip der Demokratie aber gerade in der Gleichberechtigung unterschiedlicher Ansichten besteht, ist ein Durchsetzen „von oben“ nicht möglich. In diesem Zusammenhang verweist Nassehi immer wieder auf die Skepsis auch bei Linken und Grünen gegenüber einer Demokratie, die nicht einmal das logisch wissenschaftlich erkannte „Richtige“ umzusetzen in der Lage ist. Auch seiner eigenen Schicht, der (Sozial-)Wissenschaft, redet er ins Gewissen, wenn sie glaube, dass sich das „Richtige“ durchsetzen müsse. Auch hier spielt für ihn die Entlastungsfunktion eine Rolle, das „Richtige“ gesagt, aber beim (dummen) Volk keine Resonanz gefunden zu haben.
in diesem Zusammenhang nimmt Nassehi auch die „Kapitalismuskritik“ aufs Korn. Sie ist für ihn längst zu einem inhaltsleeren Kampfbegriff geworden, den man vor einem bestimmten Publikum stets als Applausbringer einsetzen kann. Der Kapitalismus ist für ihn nur ein Beispiel der die westlichen Demokratien prägenden „Maßlosigkeit“. Gerade die säkulare Demokratie setzt aus guten Gründen keine strengen Grenzen für das zu Sagende und zu Tuende. Das eröffnet der Maßlosigkeit grundsätzlich alle Tore und führt im Falle des Kapitalismus zu disruptiven Innovationen und letztlich Wohlstand. Doch weist Nassehi darauf hin, dass diese Maßlosigkeit nicht ein – singuläres – Merkmal des Kapitalismus, sondern der säkularen Demokratie ist und sich damit in allen anderen Lebenssparten wie Wissenschaft, Kultur, Recht – und auch der Ökologie niederschlägt. Das lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man die Aktivitäten und Publikationen der einzelnen Ressorts Revue passieren lässt.
Im Zusammenhang mit der Horizontalität westlicher Gesellschaften stellt Nassehi weiterhin fest, das Krisen stets zu unterschiedlichen Zielkonflikten führen. Die eine wollen sie sozial, die anderen technologisch, die dritten marktgerecht lösen, und diese unterschiedlichen Lösungsansätze führen dann zur Blockade der großen „Transformation“, die vor allem für die Klima-Aktivisten auf dem Programm steht. Überhaupt steht Nassehi dem Transformationsbegriff skeptisch gegenüber, gerade weil dieser eine kollektive Anstrengung impliziert, die in westlich-demokratischen Systemen unrealistisch ist.
Nassehi zeigt das am Extrembeispiel der AfD, die diesen Bestrebungen zwar mit extrem populistischen, aber (leider) erfolgreichen Behauptungen – wir wollen hier das Wort „Argumenten“ vermeiden – entgegentritt. Doch Nassehi weist deutlich daraufhin, dass auch die unbestrittene Unvernunft einer wie immer gearteten Öffentlichkeit nicht dazu geeignet ist, die Grundprinzipien der Demokratie auszusetzen. Zwangsläufig kommt er dann zu dem Schluss, dass Lösungsansätze kompatibel mit der gesellschaftlichen Realität sein müssen. Für ihn entsteht Transformation evolutionär aus der Gewöhnung an prinzipiell erträgliche Umstände. Kleine Schritte sind zwar unspektakulär, aber auf die Dauer ergiebiger. Und gerade hier legt er wieder den Finger auf die Wunden der (linken) Soziologen, die gerne die Macht des Arguments und des richtigen Engagements wirken lassen wollen.
Für Nassehi ist die „Visibilität“ von Krisen ein grundsätzliches Phänomen. In „normalen“ Zeiten werden Lebensbedingungen wie Frieden, Versorgung, Unterkunft und Arbeit als selbstverständlich betrachtet. Unerwartet auftretende Krisen lassen die Fragilität der Welt sichtbar werden und führen zu großer Verunsicherung, die sich wiederum durch Populisten der einschlägigen Art ausnutzen lässt. Nassehi zeigt das am Beispiel einer hypothetischen „Standard“-Familie mit zwei Kindern und berufstätigen Eltern, die von preiswerter Energie über Verkehrsanbindungen bis zu Kita und Schule eine Vielfalt von Vorannahmen treffen muss, um ihr Lebensmodell realisieren zu können. Bricht eine dieser Voraussetzungen weg, setzt die Verunsicherung ein und öffnet prinzipiell das Ohr für einfach Lösungen nach dem „Gut/Böse“-Prinzip.
Immer wieder jedoch betont Nassehi, dass er hier nicht Linken- oder gar Kollegenkritik betreiben, sondern nur auf die Nutzlosigkeit der politisch korrekten großen Geste verweisen will. Man kann sich vorstellen, dass viele seiner Kollegen und auch (linke) Klima-Aktivisten das überhören und nur seine ungeliebte Kritik vernehmen werden. Die Reaktionen liegen dann auf der Hand, und hier möchte Nassehi schon einmal vorbauen.
In den weiteren Ausführungen beleuchtet Nassehi noch weitere Elemente des Politikbetriebs, diskutiert den Begriff der für die Wählbarkeit wichtigen Kompetenz und verdeutlicht die Tatsache, dass gerade der Selbstbetrug der selbstentlastenden „großen Geste“ geradezu schädlich ist, da er den Populisten eine Steilvorlage liefere.
Am Ende betont Nassehi noch einmal ausdrücklich, dass er aus den dargelegten Gründen keine Lösung anbieten will und kann, verweist aber gleichzeitig darauf, dass gerade im Klimabereich sich schon vieles in die richtige Richtung bewegt habe. Natürlich sei das nie genug – wie die Aktivisten bemängeln -, aber besser ein quälend langsamer Fortschritt als ein rhetorisch verbrämter Stillstand.
Dem ist nur zuzustimmen und zu hoffen, dass Nassehis Ausführungen auch bei der – wie immer gearteten -eigenen Klientel auch fruchtbaren Boden fallen.
Das Buch ist im Verlag C.H. Beck erschienen, umfasst 224 Seiten und kostet 18 Euro.
Frank Raudszus
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