Zurück zu den eigenen Wurzeln

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Der Zweite Weltkrieg endete nicht nur mit einer totalen Niederlage des Dritten Reiches, sondern war auch der Startschuss für die Befreiung der kolonisierten Länder von ihren Besatzungsmächten. Eines dieser Länder war Marokko, das im Gegensatz zu Algerien das Glück hatte, bereits im Jahr 1956 von den Kolonialmächten Frankreich und Spanien ohne einen längeren Krieg in die Unabhängigkeit entlassen zu werden.

Für das Selbstverständnis und die Identifikation der Bevölkerung stellte diese Eigenständigkeit in gewisser Weise ein Problem dar, hatten die Kolonialmächte dem Land doch nicht nur ihre Organisationsstrukturen, sondern auch ihr kulturelles Selbstverständnis aufgepropft. Eine schon vorher existierende „indigene“ Oberschicht hatte sich schon aus Opportunismus der europäischen Kultur angepasst, und die unteren Schichten hatten schlicht keinen Zugang zur Hochkultur.

Mohamed Melehi, „Untitled“, 1963

Im Jahr 1956 änderten sich dann die politischen Randbedingungen radikal, doch kulturell herrschte ein Vakuum, da die europäische Kultur aus emanzipatorischen Gründen zumindest mit Skepsis betrachtet wurde, eine eigene Kulturtradition, abgesehen von bäuerlichem Kunstgewerbe, nicht existierte. In dieses Vakuum stieß die „Casablanca Art School“ hinein, zwar eine offizielle Kunsthochschule, aber (noch) ohne eigenes, nationales Konzept. Doch die nationale Begeisterung versetzte Berge, und so begannen lokale Künstler, die alten Kunstformen der Berber in die künstlerischen Aktivitäten und Konzepte der Schule einzubringen. Dabei orientierte man sich wegen der eigenen künstlerischen Vorbildung an er abstrakten Kunst des Westens, ohne diese einfach zu übernehmen. Ganz bewusst suchten und fanden die marokkanischen Künstler alte künstlerische Bräuche und Traditionen und integrierten sie in die eigenen künstlerischen Aktivitäten. In diesem Zusammenhang wurde auch der von den Kolonialmächten benutzte Begriff „Berber“ durch die lokale Bezeichnung „Amazigh“ ersetzt. So schien der Aufbruch in eine goldene Zukunft vorprogrammiert.

Mohammed Chabaa, Ohne Titel, 1977

Doch die Realität war eine andere. Nicht nur neigten die neuen nationalen Regierungen monarchischen Stils bald ihr autoritäres Gesicht, sondern in den von jungen Männern dominierten Künstlerkreisen breitete sich der Marxismus immer weiter aus, so dass es im Laufe der 60er und 70er Jahre zu Verhaftungen und längeren Haftstrafen für exponierte Künstler kam. Das spornte aber die Verbliebenen nur an, weiter auf neue Konzepte zu setzen. Das dauerte weit über ein Vierteljahrhundert, und erst im Jahr 1987 war die neue marokkanische Kunst soweit etabliert, dass man von ruhigerem Fahrwasser sprechen konnte. Auch die Rehabilitierung der Häftlinge tat ihr Übriges, der modernen Kunst auch in dieser postkolonialen Nation ihren Weg zu ebnen.

Lehrer und Schüler der Casablanca Art School, 1977

Aus diesem Grunde konzentriert sich die Ausstellung auf die Jahre zwischen 1962 und 1987 und die ersten Generation „freier“ marokkanischer Künstler und ihren abstrakten Konzepten. Diese Konzepte bauten zum großen Teil auf dem (deutschen) Bauhaus-Stil auf und schlugen sich nicht nur in der darstellenden Kunst, sondern auch in der Architektur nieder, was sich an einer Reihe von Hotels und öffentlichen Bauten nachweisen lässt.

Die Ausstellung zeigt hundert Werke von zweiundzwanzig Künstlern dieser Epoche und vermittelt einen eindrucksvollen Überblick über das kulturelle Kapital einer jungen, die eigene Identität suchenden Nation.

Näheres ist der Webseite der Kunsthalle Schirn zu entnehmen.

Frank Raudszus

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