Freunde der Klaviermusik denken bei dem Namen Rachmaninow spontan an dessen zweites Klavierkonzert, wohl eines der bekanntesten Stücke dieser Gattung. Doch der im Jahr 1873 geborene russische Komponist hat natürlich viele andere Stücke komponiert, die dem erwähnten Werk in nichts nachstehen. Anfang Juli gastierte der in Berlin lebende russische Pianist Alexander Melnikov mit einem lupenreinen Rachmaninow-Programm beim 10. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt. Sein Wohnort und die Tatsache, dass er bereits seit 2002 in London unterrichtet, dürften bereits einen ausreichenden politischen Hintergrund liefern, doch obendrein ist er auch erklärter Putin-Gegner.
Doch an diesem Abend ging es nicht um Politik, sondern ausschließlich um Musik. Melnikov wandte sich vor Beginn sogar mit einigen launigen Worten an sein Publikum, die bereits vor Beginn sein unbewegtes Gesicht Lügen straften. Denn hinter seinem Pokerface, dass er auch beim Spielen zeigt, steckt offensichtlich eine gehörige Portion lakonischen Humors.
Doch diesen konnte er bei seinem ersten Vortrag nicht offen zur Schau tragen, denn die 22 Chopin-Variationen op. 22 aus dem Jahr 1903 fordern nicht nur höchste Konzentration, sondern wandern durch den gesamten Gefühlsraum, wobei der spritzige Witz nicht gerade im Vordergrund steht.
Zwar hört man streckenweise sogar noch Chopin ein wenig heraus, das mag aber auf einer Selbsttäuschung aufgrund der Werkangaben und der Kenntnis der Vorlage beruhen. In den verschiedenen Variationen geht Rachmaninow alle Stilarten des späten 19. Jahrhunderts durch, vom vollen vertikalen Spiel mit breiten Akkorden über donnernde oder flirrende Läufe bis hin zu fast schon puristischen Spielarten mit minimalem Notenmaterial. Dabei erinnert dieser Marsch durch die Klavierstile natürlich immer wieder an andere Komponisten des 19. Jahrhunderts, etwa Schumann, Brahms oder Saint-Saens. Doch huschen diese Assoziationen nur kurz vorbei, denn Rachmaninow versucht sich nicht in der Imitation, sondern betritt in seiner weit ausladenden Vielfalt fast zwangsläufig die stilistischen Gefilde anderer Komponisten. Neben auftrumpfenden oder gar jubelnden Variationen kommen auch melancholische oder gar düstere Versionen des Chopin-Themas bis hin zum Trauermarsch zu Gehör, dann wirken manche in ihren fragilen Quirligkeit wie Vorläufer von Debussy oder Ravel. Eine Exegese dieser Variationsfolge würden den Rahmen dieser Rezension sprengen, daher wollen wir neben der Vielfalt des musikalischen Ausdrucks explizit nur auf den Klangrausch hinweisen, den diese Variationen entfesseln.
Alexander Melnikov interpretierte diese außerordentlich anspruchsvolle Variationsfolge trotz der raumfüllenden Präsenz dieser Musik mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit, die den Eindruck vermittelte, hier handele es sich um einfach zu spielende Klaviermusik. Seine gestische und mimische Zurückhaltung waren ein Grund dafür, seine perfekte Beherrschung des Flügels und der Musik der tiefer liegende. Als der letzte Akkord der letzten Variation verklungen war, schien das Publikum buchstäblich erschlagen von diesem breit gefächerten Klanggewitter.
Das zweite Werk des Abends ähnelte dem ersten, nur ging es hier um zwanzig Variationen des „La Follia“-Themas von Corelli aus dem Jahr 1931. Klangvolumen und Vielfalt des musikalischen Ausdrucks ähnelten dem ersten Werk und setzten dessen raumfüllende Wirkung fort. Melnikov erzählte hier im Namen Rachmaninows Geschichten aus der emotionalen Welt, die von mal leichter, mal schwermütiger Seelenlage bis hin zu auftrumpfendem Aufruhr und Protest reichten. Auch hier leistete Melnikov wieder pianistische Schwerstarbeit, ohne dass man ihm dies anmerkte. Bei jeder einzelnen Variation arbeitete er deren spezifischen emotionalen Gehalt sorgfältig heraus und achtete dabei vor allem auf die kleinen Änderungen innerhalb der jeweiligen Variation. Denn jede von ihnen lebt ja in dem Sinne, dass sie zwar eine bestimmte Gefühlsart zum Ausdruck bringt, dabei aber viele Schattierungen sowie Schwankungen durchläuft. Jeder einzelnen Variation verlieh Melnikov einen ganz eigenen Spannungsbogen, der nie auch nur schwächelte geschweige denn riss.
Schon zur Pause mit viel Beifall bedacht, spielte Melnikov im zweiten Teil des Abends dann Rachmaninows „Études-Tableaux“ aus dem Jahr 1917. Von den neun Etüden steht nur die letzte in (D-)Dur, alle anderen durchlaufen einen Moll-Zyklus, der von c-moll über a-Moll und fis-Moll nach h-Moll geht, um dann „rückwärts“ über a-Moll und c-Moll nach d-Moll zu wandern. Ob dieser krebsgangartigen Anordnung vor allem von a- und c-Moll ein musikalisches System zugrunde liegt, ist eine eigene Frage, die sich im Rahmen dieser Erörterungen nicht beantworten lässt. Da aber diese Etüdenfolge angeblich auf dem „Rotkäppchen“-Motiv beruht, darf man es annehmen. Vor allem die siebente Variation (c-Moll) gibt die gefährliche Bösartigkeit des Wolfes und sein geschmeidiges Anschleichen auf beste programmatische Art zum Ausdruck. Auch hier formte Melnikov einen musikalischen Erzählreigen, der unterschiedliche Situationen und Gefühlswelten auf eindringliche Weise zum Ausdruck brachte. Das Publikum durchlief zusammen mit ihm alle diese emotional aufrührenden Momente, und nach dem letzten Ton fühlte man sich ähnlich erschöpft wie – vermutlich – der Solist am Flügel.
Der Beifall prasselte dann förmlich auf Melnikov nieder (obwohl er erhöht saß), und er antwortete einerseits mit stoischem Gesicht und knappem Lächeln, aber in den Augen blitzte doch der Schalk. Und nach der letzten von drei Zugaben – natürlich alle von Rachmaninow – kreuzte er kurz die Arme vor dem Körper, was soviel wie „finito“ bedeutete. Und das Publikum nahm diesen abendfüllenden Klangrausch im Kopf mit nach Hause.
Frank Raudszus
No comments yet.