Spontan hätte ich Melanie Möller nach der Lektüre ihres Buches „Der* ent_mündigte Lese:r“ am liebsten eine persönliche Dankesmail geschickt, aber nun soll es doch eine Besprechung mit angemessenem Abstand werden.
Dennoch: Was für ein tolles Buch, mit dem Melanie Möller mit all den überempfindlichen Bedenkenträgerinnen (und Bedenkenträgern) abrechnet, die am liebsten die gesamte Weltliteratur ihrer moralgetränkten Sicht unterwerfen und überschreiben würden, wo sie hinsichtlich sexistischer, rassistischer, klassistischer etc. Verfehlungen fündig werden.
Melanie Möllers Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit der Literatur und insbesondere auch für die Trennung von Autor und Werk. Sie gesteht jeder Leserin und jedem Leser zu, einen Text kritisch zu lesen und zu kommentieren. Gerade das mache eben mündige, selbstständige Leserinnen und Leser aus. Sie wendet sich jedoch vehement gegen jede Form von „Triggerwarnung“ oder gar Entschärfung von Texten, die empfindliche Gemüter vor zu drastischen oder politisch unkorrekten Texten bewahren möchte. Sie sieht darin geradezu eine Entmündigung der Leserschaft.
Mit einem Gang quer durch die antike und moderne Literaturgeschichte zeigt sie, dass literarische Darstellung immer schon von Gewalt, Kriegen, von unkorrektem Sexualverhalten in ihren verschiedensten Spielarten, von Schmähung, von Hohn und Spott und anderen Abweichungen von der jeweils geltenden Moral und Norm handelt. Literatur zeigt, wie die Menschen sind, nicht, wie sie im Idealfall sein sollten. Wer das nicht aushält, sollte ihrer Meinung nach ganz die Finger von der Literatur lassen. Aber niemand sollte sich anmaßen, anderen vorzuschreiben, was sie wie lesen sollen.
Schon dieser Ansatz spricht mir ganz aus der Seele, endlich werden Stimmen laut gegen eine um sich greifende „Cancel-Culture“, die historische Entwicklungen, kulturelle Beeinflussungen (ohne die geht Kultur gar nicht!) missachtet oder häufig auch gar nicht kennt. Es erstaunt allerdings, dass sich auch Akademikerinnen an dieser Jagd beteiligen.
Besonders beeindruckt mich die Altphilologin und Germanistin Melanie Möllers mit ihrer begeisterten und gleichzeitigen souveränen Sichtung der Literatur von der Antike bis in die Neuzeit. Die Lektüre ist geradezu spannend, weil sie jeweils ein Kapitel dem Vergleich eines antiken Schriftstellers (bzw. mit Sappho auch einer antiken Schriftstellerin) mit einem Schriftsteller bzw. einer Schriftstellerin (Annie Ernaux, Astrid Lindgren) der Neuzeit unterzieht. Sie macht die antiken Autoren dabei so lebendig und gegenwartsnah, dass ich als Leserin mich am liebsten sofort in ein Altphilologie-Studium stürzen würde, wenn ich 40 Jahre jünger wäre.
Schon der Beginn ist furios: Sie stellt uns mit Homers Ilias und der Bibel zwei kanonische Texte vor, deren Urheberschaft immer noch der Forschung bedarf, die nur so strotzen vor Gewalt, männlichem Heroentum, Genderungerechtigkeiten sowie Rassismus, aber auch von starken Frauen im Mythos wie in der Realität, die sich gegen männliche Übermacht durchaus zu wehren wissen. Es scheint Melanie Möller große Freude zu machen, das herauszuarbeiten und gleichzeitig als Aufgabe für eine mündige Leserschaft zu formulieren, sich eben damit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig aber ist sie gegen Verharmlosung und „Entschärfung“ der Texte von Homer und der Bibel.
Im Weiteren begegnen wir bei ihr vielen der „Großen“ der griechischen und römischen Antike wie Euripides, Aristophanes und Sappho als Griechen, Ovid, Catull, Properz, Vergil und Petron für die Römer. Was den meisten von uns, die Lateinunterricht genossen haben, als Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger große Langeweile erzeugt hat, weil wir gar keine Kontexte hatten, schon gar nicht mit frivolen oder drastisch sexuellen Anspielungen konfrontiert wurden, das wird bei Melanie Möller zu einer lustvollen Schilderung von Texten, die gerade die Abweichung von der Norm zelebrieren. Literatur als Provokation, die herausfordert und das auch schon in der Antike getan hat, macht die künstlerische Freiheit und damit deren Wert aus. Das ist bei Melanie Möller toll zu lesen.
Von den neuzeitlichen Schriftstellern nimmt sie sich u.a. Goethe, Kleist, Shakespeare und Céline vor. An Goethe haben die literarischen Sittenwächterinnen ohnehin viel zu mäkeln, aber jüngst sind sie wohl auch bei Kleist fündig geworden. „Die Verlobung von St. Domingo“ wird als rassistisch denunziert, ohne dass reflektiert wird, dass bestimmte Formulierungen im 19. Jahrhundert noch nicht „gecancelt“ wurden. Melanie Möller sieht sehr wohl unreflektierte kolonialistische Haltungen im 19. Jahrhundert, das sei heute ein „Allgemeinplatz“, der zurecht herausgearbeitet worden ist, der aber Eingriffe in Kleists Text in keiner Weise rechtfertige. Sie fragt, ob Kleist sich selbst für die Sklavenaufstände in Haiti hätte engagieren müssen, vielleicht sogar Afrikaner bei sich hätte aufnehmen müssen, um dem Verdikt des Rassisten zu entgehen. Aus ihrer Sicht ist eine solche Haltung der Kritikerinnen eine unerlaubte Gleichsetzung von Autor und Werk. Die Suche nach unkorrekten Darstellungen verstelle gleichzeitig die Sicht auf komplexere Zusammenhänge eines Werks.
Mit dem Essayroman „Aus der Zuckerfabrik“(2020) gibt es eine Umschreibung der Novelle. Dieser Roman werde sogar aus akademischer Sicht gelobt, denn er komme „ohne Triggerwarnungen aus“ und präsentiere doch „die gesamte Kleist-Novelle“. Allerdings sei, so die Kleist-Kritikerinnen, Voraussetzung für eine Umschreibung, dass man Kleist selber gelesen habe. Möllers lakonischer Kommentar „Immerhin!“ Die Frage ist nur, wer sich denn Kleist noch zumuten kann, ohne traumatisiert zu werden …
Auch in der Novelle „Die Marquise von O.“ ist man übrigens fündig geworden.
Amüsant ist das letzte Kapitel, in dem sie zwei starke Frauen der Literaturgeschichte vergleicht, Sappho und Astrid Lindgren. Es gibt so wenige Textdokumente bzw. Textfragmente von Sappho, dass man wunderbar den abstrusesten Verdächtigungen nachgehen kann, insbesondere darüber, was sie wohl im wahren Leben an ihrer Mädchenschule getrieben haben mag. Die Schnüffelei hat den Geruch von „Igittigitt, wie schön“.
Dann zu Astrid Lindgren. Die Geschichte mit dem Vater, der jetzt als „Südseekönig“ durch den 3. Band von Pippi Langstrumpf zieht, ist noch nachvollziehbar. Aber nun wird auch dieser „Südseekönig“ als rassistisch hinterfragt: Denn warum ist ein Weißer ein König (überhaupt „König“!) eines Südseestammes? Gefordert wird sensibles Vorlesen durch die Erwachsenen, die den Kindern alle möglichen Vorurteile erklären sollen. Und überhaupt Pippi als Lügnerin, was kann das bei Kindern auslösen! Melanie Möller protestiert heftig und verweist auf die Kraft von Kindern: „Als ob ein Kind nicht Kind – also frei – genug wäre, sich mehr an der menschlichen Fähigkeit der Lüge zu erfreuen als an langweiligen biologisch-biographischen Lokalisierungen.“ Melanie Möller findet es erschütternd, „für wie unmündig man nicht nur Erwachsene, sondern insbesondere Kinder hält“, und fragt, warum man die Kinder nicht jedenfalls von sich aus fragen lasse.
Ich kann Melanie Möllers Position nur unterstreichen, heißt doch Erziehung zur Mündigkeit, den Kindern bei der Auseinandersetzung mit der Welt zu helfen, statt sie in Watte zu packen und vor allem zu schützen.
Wenn man konsequent wäre, müsste man allen empfindlichen Leserinnen und Lesern raten, bitte auch keine Zeitungen mehr zu lesen, keine Nachrichten im Fernsehen zu sehen und schon gar nicht im Internet zu surfen, denn dort begegnet sensiblen Seelen überall die böse Welt, die leider nicht dem Ideal eines gerechten, friedlichen Zusammenlebens der Menschen entspricht.
Sollte man ihnen vielleicht vorschlagen, nur noch Rosamunde Pilcher zu lesen? Oder lauern auch bei dieser Autorin böse Gefahren, was Sexismus, Klassismus, Rassismus etc. anbetrifft? Oder am besten Augen und Ohren ganz vor der Welt verschließen?
Es ist Melanie Möller sehr zu danken, dass sie diese neue Art der moralischen Zensur von Literatur so pointiert und klug aufs Korn nimmt. Das alles geschieht in klarer Sprache, die auch witzig und sehr salopp ausfällt, wenn sie ihrem Unmut oder gar ihrer Empörung Luft machen muss.
Insgesamt ist das eine höchst inspirierende Lektüre, fern aller professoralen Besserwisserei. Ein Buch, das sich durchaus gut im Strandkorb lesen lässt, aber Achtung: Sonnenbrand-Gefahr, weil das Buch so fesselt.
Last not least: Melanie Möller stellt ihrem Buch ein Kafka-Zitat voran, das für sich spricht, was die Funktion von Literatur anbetrifft: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück (…), ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (Franz Kafka an Oskar Pollak, 27. Januar 1904)
Das Buch ist im Galiani Verlag erschienen, es hat 237 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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