Margaret Atwood/Douglas Preston: „Vierzehn Tage“

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Dieses Hörbuch des Autoren-Duos Margaret Atwood und Douglas Preston entstand während und nach der Corona-Pandemie in New York. Tatsächlich waren daran jedoch 36 der bekanntesten zeitgenössischen US-amerikanischen Autoren beteiligt, die alle eine Geschichte beitrugen.

Denn um Geschichten von und um Menschen geht es hier tatsächlich. Ort der Erzählung ist ein heruntergekommenes Mietshaus in New York, dessen Bewohner das Haus während des Lockdowns im Jahr 2020 nicht verlassen dürfen, während draußen die Krankenwagen mit Sirenengeheul vorbeijagen, um neue Patienten in die Krankenhäuser zu bringen. Die LKWs mit den Verstorbenen fahren dagegen eher leise und vorzugsweise nachts.

Die Ich-Erzählerin ist eine noch relativ junge Frau mit asthmatischen Beschwerden, die den Hausmeisterjob angenommen hat, nachdem der vorherige Inhaber dieser Stelle verschwunden war. Sie ist finanziell am Ende und benötigt das karge Gehalt dringend zum Überleben, obwohl sie die Arbeit und vor allem die Bewohner überhaupt nicht interessieren. Ihre Hauptsorge gilt ihrem Vater, der schwer erkrankt in ein Pflegeheim eingewiesen wurde und den sie seitdem trotz vieler Versuche nicht mehr kontaktieren kann. In der Wohnung des alten Hausmeisters hat sie neben anderen seltsamen Requisiten ein Dossier über die Bewohner gefunden, das sie etwas lustlos und mit leicht schlechtem Gewissen diagonal durchblättert.

Als sie beim Erkunden des Hauses eine verschlossene Tür zum Hausdach findet, entdeckt sie auch den Schlüssel und richtet sich in diesen schönen Sommertagen dort ein, um während des Lockdowns wenigstens frische Luft und die Aussicht zu genießen. Doch auf diese Idee sind wohl auch andere Mitbewohner gekommen, denn am nächsten Tage findet sie das Schloss aufgebrochen und das Dach mit weiteren Sitzgelegenheiten ausgestattet vor. Da sie keine Anweisungen geben kann und auch nicht will, versammelt sich bald die gesamte Hausgemeinschaft hier und kommt – teil nolens, teils volens – miteinander ins Gespräch. Anfangs bemüht sich jeder um demonstrative Distanz zu den anderen, doch langsam bröckelt die anfängliche Betonschale der Gleichgültigkeit und man unterhält sich etwas engagierter.

Die Ich-Erzählerin lernt auch die Spitznamen kennen, die von „Eurovision“ für einen Freund der Gesangskunst über „Florida“ für eine ältere Dame bis zu „Vinegar“ – Essigwein – für deren ärgste und nicht auf den Mund gefallene Widersacherin reichen. Und schließlich schlägt Eurovision vor, dass jeden Abend einer der Anwesenden eine Geschichte erzählt. Einzige Voraussetzung: sie muss wahr sein. Die anfangs zögerlichen Mieter sitzen jedoch alle auf bestimmten Ängsten und Traumata, die sie loswerden wollen, und so reiht sich eine Geschichte an die andere. Die eine erzählt von dem beschwerlichen Leben von Einwanderern, die ihre Heimat verlassen und hier ein neues Leben beginnen mussten, eine andere von einer Vater-Tochter-Beziehung ohne Mutter, die hier in New York in Krankheit endete, dann wieder berichtet eine andere Migrantin von einer alten Frau, der sie einst auf dem kleinen Marktplatz ihres Heimatortes half und die sie jeden Tag von ferne über die Webcam dieses Marktplatzes grüßt. Dann wieder spielt Rassismus in seinen unterschiedlichen Facetten eine große Rolle, gescheiterte Ehen und familiäre Auseinandersetzungen erstellen ein vielfältiges Bild der gegenwärtigen US-amerikanischen Lebenswelt. Hier erweist sich die Stärke des Ansatzes, möglichst viele unterschiedliche Autoren aus den unterschiedlichsten Schichten und Bevölkerungskreisen zu Wort kommen zu lassen.

Angesichts der Zahl der Autoren würde es den Rahmen dieser Rezension sprengen, detailliert auf einzelne Geschichten einzugehen. Es wäre in jedem Fall ungerecht den anderen Geschichten gegenüber, denn es gibt hier keine Banalitäten. Jede und jeder redet sich seine Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen von der Seele. Dabei achten die beiden als Herausgeber fungierenden Personen auf eine stetige Steigerung der Emotionen und des menschlich-moralischen Gewichts der Erzählungen. Geht es anfangs um Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden, dominieren später das Scheitern, die Zerwürfnisse und die Tragik. Dramaturgisch liegt das daran, dass der Lockdown die Gruppe immer mehr zusammenschweißt und dass sich deren Mitglieder immer mehr dem Vertrauen der anderen ausliefern. Gegen Ende überwiegen dann die Lebensbeichten mit dem Eingeständnis schwerer Schuld, die jedoch in jedem Fall nachvollziehbar ist und nie der reinen Bosheit entspringt.

Und ganz am Ende kommt dann doch noch die unerwartete Pointe, die wir hier nicht verraten wollen, die aber einer immanenten Logik folgt. Wer sie erfahren möchte, sollte sich dieses Hörbuch zu Gemüte führen. Die Sprecherin Simone Kabst liest es mit einer großen Ausdrucksbreite, die sowohl den unterschiedlichen Personen als auch deren Erlebnissen eine eigene, unverwechselbare Wirklichkeit verleiht.

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen und umfasst zwei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 929 Minuten (über 15 Stunden!)

Frank Raudszus

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