Dieses Buch kommt auf den ersten Blick recht zeitgeistig daher. Die schlichte Haptik und der große Schrifttyp lassen auf ein eher bücherfernes Zielpublikum schließen, der explizite Hinweis auf „störende Inhalte“ weckt Erwartungen an „woke“ Inhalte.
Auch der erste Leseeindruck bestätigt diese Sicht, setzt der Autor doch gleich „zeitgemäße“ Geschlechterrollen. Im Mittelpunkt steht eine 43jährige Berliner BKA-Hauptkommissarin mit Migrationshintergrund, wie die meisten kommissarischen Archetypen praktischerweise geschieden und allein erziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter. Bei einem Date mit einem Journalisten erscheint die Kommissarin als emanzipierte, hellwache Frau, während ihr Gegenüber eher Unsicherheit und emotionale Tolpatschigkeit zeigt. Zu letzterer gehört auch der Videoclip, den er ihr auf seinem Handy zeigt, in dem die Vergewaltigung einer jungen Frau durch drei Farbige zu sehen ist. Das Ende des Dates hängt dann allerdings auch mit der Furcht der Kommissarin vor einer beruflichen Beschäftigung mit diesem Video zusammen. Und so ist es dann auch, wie sie am nächsten Morgen von ihrem Chef erfährt. Die höheren politischen Ränge wollen gerne eine Ermittlerin mit ausländischen Wurzeln sehen, um die Offenheit der Polizei zu beweisen.
Der Autor verwendet gerade zu Beginn eine fast schon nervige „einfache“ Sprache aus aneinander gereihten Hauptsätzen, die den bis dahin politisch korrekten Aufbau des Plots noch unterstützt, und man überlegt sich schon, ob sich die weitere Lektüre lohnt.
Doch dann beginnt die ermittlerische Tätigkeit Fahrt aufzunehmen. Zwar ist auch der Partner der Kommissarin ein eher fragwürdiges Exemplar der Gattung „Mann“ – siehe oben -, aber das lässt sich durch einen gewissen hintergründigen Humor ertragen. Natürlich macht die Frau die Ansagen, und er führt die Anweisungen mehr oder minder motiviert aus, doch versagt der Autor ihm nicht jede Sympathie, trotz eines sexistischen Kalauers. Die Probleme der Ermittlung bestehen darin, dass es keine Ergebnisse bezüglich der Vergewaltiger oder des Tatorts gibt. Nur das Opfer ist schnell identifiziert, da es in sozialen Medien aktiv war. Doch die Familie – allein erziehender Vater – und der Freundeskreis können keine konkreten Fakten liefern. Zwar identifiziert man schließlich den heimlichen Freund der Sechzehnjährigen, aber der hat sie selbst bereits vermisst und ihr sogar eine entsprechende Anfrage auf ihr daheim gelassenes Handy geschickt.
Nicht nur die Presse fragt drängend nach Ergebnissen, sondern vor allem die rechten Kreise toben und schwören Rache. Schnell erscheinen entsprechende Videos bewaffneter „Rächer“ mit Drohungen gegen Migranten, und dann erscheint das erste Video mit der Ermordung eines Farbigen. Die öffentliche Wut lässt die Betriebstemperatur im BKA rasant steigen und den Umgangston abstürzen bis hin zu Karrieredrohungen gegenüber der Kommissarin. Diese selbst hat neben ihrer wegen fehlender Ergebnisse frustrierenden Tätigkeit auch noch mit ihrer persönlichen Angst um ihre Tochter zu kämpfen, die sich sehr ungezwungen in den sozialen Medien bewegt und selbst zum Opfer werden könnte.
In dieser fast hoffnungslosen Situation stößt die Kommissarin auf eine Bemerkung ihrer Tochter, die von ihr verehrte und von der Mutter gehasste Influencerin sei gar keine echte Person, sondern eine von KI künstlich generierte Figur. Das weckt in der Kommissarin die fixe Idee, auch das Verwaltigungsvideo könne ein Fake sein. Und je mehr ihr Chef gegen diese abstruse Idee wettert und ihr gar die Suspendierung androht, desto mehr verfestigt sich ihr Glaube. Das liegt nicht zuletzt an den Gesprächen, die sie mit KI-Experten eines Berliner Startups führt. Vor allem deren plötzliche Schweigsamkeit bei dem Verweis auf das Video macht sie stutzig, und damit sind die Voraussetzungen für einen rasanten Showdown gegeben. Jetzt hat sich auch die Sprache geändert, als habe der Autor sich in Rage geschrieben und die „einfache Sprache“ ganz einfach vergessen. Oder der Leser bemerkt sie angesichts der steigenden Spannung nicht mehr.
Wir wollen hier nicht als „Spoiler“ auftreten und daher nichts weiter über den Inhalt verraten. Doch eines sei gesagt: das Thema dieses Buch ist die Künstliche Intelligenz und hier vor allem die Herstellung nicht mehr erkennbarer Fake-Bilder und Videos. Dem Autor gelingt es dabei, den Lesern (Achtung: generisches Maskulinum!) die wesentlichen Eigenschaften und vor allem die Gefahren dieser neuen Technologie nahezubringen, ohne sich in technischen Details zu verlieren. Wir erhalten einen konkreten Einblick in die Abgründe einer „schönen neuen Welt“, die niemand am eigenen Leib und Leben erfahren möchte. Und der Schluss verläuft zwar dramatisch, lässt jedoch einige Punkte offen. Hier hat sich der Autor offensichtlich den Weg zu einem „Fortsetzung folgt“ freigehalten.
Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 269 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Frank Raudszus
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