Aus gutem Recht boykottiert der Westen derzeit Russland nicht nur im Fußball, sondern auch in der Kultur, und ebenso den auf Putin schwörenden Teil der russischen Kulturelite. Doch was macht man mit der russischen Kulturtradition? Schließlich sollte man die Altvorderen nicht für die Untaten der heutigen Machthaber haften lassen. Und so hat sich wohl auch das Staatstheater Darmstadt frei nach dem „Weißen Rössl“ gesagt: „Was kann der Igor denn dafür, dass er ein Russ´ ist?“.
Also hatte man für das letzte Sinfoniekonzert der Saison ein Programm zusammengestellt, das zwei große russische Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts vereint: Sergej Rachmaninow und Igor Strawinsky. Das musikalisch Pikante daran liegt in der gegensätzlichen musikalischen Ausrichtung trotz der Zeitgenossenschaft der beiden. Wer Rachmaninow hört, hört Brahms, Mahler und Bruckner mit; wer aber Strawinsky lauscht, hat Richard Strauss, Schönberg und Webern im Ohr. Während der eine sich noch ganz im tonalen Fahrwasser der Spätromantik bewegt, hat sich der andere in die so unsicheren wie aufregenden Regionen moderner Harmonik und Metrik begeben.
Dennoch gibt es natürlich immer wieder Überschneidungen melodischer oder harmonischer Art. Da kann dann Strawinsky auch mal wie Rachmaninow klingen, und umgekehrt. Bezeichnend ist jedoch, dass die musikalische Moderne viel stärker mit Ironie, Parodie, ja: Karikatur spielt als die stets ernsthaft mit den großen Emotionen kämpfende Spätromantik. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass die Moderne wegen der Schrecken des frühen 20. Jahrhunderts allen emotionalen Ernst als Heuchelei empfand, während die Spätromantiker des bürgerlichen 19. Jahrhunderts Witz und Satire als „unernst“ ablehnten.
Der Abend begann mit Igor Strawinskys im Jahr 1922 entstandener „Pulcinella-Suite“, die einen Archetypus der italienischen Comedia dell´arte ins Musikalische übersetzt. Pulcinella war der schlaue aber grobe, witzige aber tolpatschige Bursche vom Dorf, und so eine extrovertierte Figur lässt sich natürlich klanglich und rhythmisch aufs Schönste karikieren und persiflieren. Das anfängliche Thema kommt bei Strawinskys Ballettmusik noch ganz traditionell, fast barock daher, dann aber geht es bei den konventionell benannten Sätzen – Serenata, Scherzino, Tarantella, Toccata, Gavotta, Vivo und Minuetto – harmonisch und rhythmisch zur Sache. Das leicht umgestellte Orchester – rechts vorne die Celli noch vor den Bratschen – unter der Leitung von GMD Daniel Cohen ließ Strawinskys scharfem Witz und seiner Lust an der Provokation (die heute keine mehr ist) freien Lauf. Das äußerte sich jedoch nicht in Gedröhne und übersteigertem Tempo, sondern in der harmonischen und metrischen Verfremdung des eigentlich eingängigen Themas. Das gut ausgestattete Orchester schaffte es, der Suite eine kammermusikalische Aura zu verleihen. Daniel Cohen ließ einzelne Instrumente oder kleine Gruppen in den Vordergrund treten und achtete auf hohe Transparenz. Jede einzelne Stimme kam zu ihrem Recht und konnte sich frei entfalten. Das ist natürlich bei Strawinsky so angelegt, weil er nie die einfache Dorfmusik aus dem Auge verliert. Schließlich spielte die Comedia dell´arte auf dem Land, wo die Musik sich auf schlichtem Niveau bewegte. Und dieses schlichte Niveau stellen Strawinsky und das ihn spielende Orchester auf höchstem Niveau nach. Dieser kunstvoll zelebrierte Abstieg ins vermeintlich Schlichte entbehrt nicht einer gewissen Komik, und das war wohl kompositorisch auch beabsichtigt. Strawinsky dürfte damit auch bewusst eine Provokation des bürgerlichen Publikums beabsichtigt haben, das auf die Dorfmusik verächtlich hinabblickte. Hier kommt sie nun in neuem Gewande und wird plötzlich zur modernen Kunst.
Daniel Cohen und das Orchester schafften es durch ihre transparente Darbietung, dieser Musik gleichzeitig den Anschein des Schlichten und des Kunstvollen zu verleihen, und dafür ernteten sie viel Beifall.
Im Anschluss daran trat der russische Pianist Alexander Melnikov, der wenige Tage vorher im Kammerkonzert noch als Solo-Interpret Rachmaninow gespielt hatte, an den Flügel, um zusammen mit dem Orchester Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“, op. 43 aus dem Jahr 1934, vorzutragen. Gut ein Dutzend Jahre nach Strawinskys „Pulcinella“ entstanden, wirkt es bei aller Wucht und Virtuosität doch konventioneller, der Spätromantik verhaftet. Im Gegensatz zu klassischen Klavierkonzerten mit ihrer Fokussierung auf den Solisten sind Orchester und Solo-Instrument hier nicht mehr oder minder getrennt, sondern eng ineinander verwoben. Beide spielen dann in ähnlichen oder sogar identischen dynamischen Gefilden, so dass man bisweilen den Flügel kaum noch im Klangrausch identifizieren kann. Doch das liegt nicht in mangelhafter Interpretation, sondern ist vom Komponisten so gewollt. Der Klangeindruck bis in seine extremen Ausprägungen war ihm das Wichtigste, nicht die lineare Durchführung eines gegebenen Themas. Und dazu kommt in dieser Rhapsodie noch die Metaphorik, die sich in einer mehrfachen Präsentation des Hymnus „Dies Irae“ durch die Instrumentengruppen bemerkbar macht. Die Bedeutungsschwere dieses Titels schlägt sich dann in entsprechend wuchtigen und „schicksalhaften“ Akkordketten nieder, die Melnikov markant und mit der ihm eigenen Souveränität im schnellen Wechsel mit flirrenden Läufen präsentierte. Dann wieder schufen kantable Passagen lyrische oder gar melancholische Emotionsräume, so wie man es von Rachmaninows weit ausladender Musik kennt. Auch hier durchlief das Publikum wieder ein Wechselbad der Emotionen, bei dem kaum eine seelische Befindlichkeit ausgelassen wurde.
Der Beifall des von Solist und Orchester begeisterten Publikums ließen Melnikov dann noch einmal an den Flügel treten und eine Zugabe zu spielen, die mit ihrer Minimalität und Kürze nicht nur einen scharfen Kontrast zum gerade verklungenen Rausch bildete, sondern auch den Humor des Solisten aufblitzen ließ.
Nach der Pause erklang dann noch Strawinskys Ballettmusik „Petruschka“, unterlegt von Texten auf der Bühnenrückwand, um dem Publikum den Handlungsfaden hinter der Musik nahezubringen. Und das war auch gut so, denn damit ließen sich viele Elemente wie die sich vermischende Jahrmarktsmusik, die Drehorgel oder die sausenden Karussells musikalisch identifizieren, ja: es bot sich geradezu als Herausforderung an, wie bei einer Wette alle Elemente zu lokalisieren. Und wenn dann der hinterhältige Scharlatan auftritt, wird das Orchester plötzlich leise, und nur die Flöten intonieren die bösen Verwandlungen des Zauberers. Wenn dann die drei Puppen ein unerwartetes Leben durchlaufen müssen, nur um am Ende doch wieder zu sterben, spielt sich die ganze Tragik dieses auf drei Puppen verdichteten menschlichen Lebens in der Musik wieder, wobei Strawinsky immer wieder für raffinierte Klangwirkungen sorgt, so etwa beim Zusammenspiel von Flöte und Flügel, oder der Melancholie freien Lauf lässt, wenn die Ballerina und der Mohr zusammen tanzen. Normalerweise kann das Publikum der Handlung durch die Figuren des Balletts folgen, doch hier war es auf die Musik selbst und die knappen Texte zurückgeworfen. Umso mehr musste es den musikalischen Bewegungen folgen, und das Orchester unter Daniel Cohen tat alles, um diese Handlung musikalisch zum Leben zu erwecken.
Das gelang den Beteiligten auf eindringliche Weise, und das Publikum dankte ihnen mit anhaltendem Beifall. Dass dann noch der Tubist Eberhard Stockinger mit warmen Worten des Orchestervorstandes und „standing ovations“ seiner Kollegen in den Ruhestand entlassen wurde, setzte dem Konzertabend die Krone auf.
Frank Raudszus
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