Der Untertitel dieses Buches lautet „22 populäre Mythen und was wirklich dahinter steckt“ und suggeriert bereits, dass diese landläufigen „Mythen“ alle falsch sind. Genau so entwickelt sich das Buch auch, wobei Hein de Haas zielstrebig und in übersichtlicher Form vorgeht. Das Buch ist in drei Teile strukturiert, die nacheinander die „Mythen der Migration“, die Frage „Zuwanderung: Problem oder Lösung“ sowie die „Migrationspropaganda“ aufs Korn nehmen. Diese saloppe Wortwahl erfolgte bewusst, da Hein de Haas systematisch sämtlichen heute gängigen Standpunkten zur Migration – negative wie positive – eine deutliche Absage erteilt. Dabei kann man ihm in vielen Fällen folgen und seine Sicht nachvollziehen, in einigen Fällen jedoch darf man berechtigte Zweifel hegen, und diese Fälle strahlen dann auch auf die Argumentation bei anderen aus.
Die Frage, ob wir Zuwanderung benötigen, ist sicherlich zu bejahen, und de Haas fragt sich denn auch, warum man – die Politiker – die Migration derart bekämpft. Zu Recht verweist er die Behauptung gerade rechter Kreise, dass wir keine Zuwanderung benötigen, ins Reich des Wunschdenkens. Ebenso widerlegt er die Vorstellung, man könne durch Unterstützung der Herkunftsländer deren Bewohner zum Dableiben motivieren. Gerade zunehmende Bildung erzeugt erst das Wissen über andere – westliche! – Länder und den Wunsch, dort ein besseres Leben zu führen. Erst spät im Entwicklungszyklus solcher Länder überwiegt die Haftung an der eigenen Heimat den Auswanderungswunsch.
Doch bereits der erste Punkt der Liste ist fragwürdig. Der Autor bestreitet, dass die Migration in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen habe – von kriegerischen Einzelursachen abgesehen. Aus internationalen Statistiken belegt er klar, dass die Migration seit Jahrzehnten mehr oder minder stabil ist. Da die Zahlen jedoch Prozentwerte darstellen, unterschlägt er die Tatsache, dass sich diese Prozentwerte bei weltweit starkem Bevölkerungswachstum in den – schrumpfenden! – Zielländern als absolute Steigerungen niederschlagen. Die weit verbreitete Meinung, dass die Migration durch das weltweite Elend verursacht wird, verweist er ebenso in das Reich der frommen Lüge, die gerne von NGOs erzählt werde, um Gelder und akquirieren. In Wirklichkeit könnten sich die wirklich Armen die teuren Schlepperdienste gar nicht leisten und daher kämen nur besser qualifizierte Mitglieder des jeweiligen Mittelstandes. Hier sitzt offenbar de Haas einem ideologischen Wunschdenken auf, das die Motivation der Migranten von jeglichen „parasitären“ Wünschen entkleiden möchte. Bildung ist zwar für Einkommen hinreichend, aber nicht notwendig, will sagen, auch sprachlich und fachlich unqualifizierte Bevölkerungsgruppen können über entsprechende Geldquellen verfügen bis hin zur (Klein-)Kriminalität. Mit diesem falschen Wunschdenken infiziert er dann andere Argumentationsketten. So widerspricht er sich selbst, wenn er behauptet, die angeblich nicht existenten minder qualifizierte Migranten würden im Westen in illegalen Beschäftigungsverhältnissen ausgebeutet.
Die Behauptung, Migranten würden im Westen die Löhne drücken, kontert er mit Statistiken der Einkommensverteilung zwischen Migranten und Einheimischen. Doch diese Statistiken bilden natürlich nur offizielle Arbeitsverhältnisse ab, aber nicht die illegalen Jobs.
Die angebliche Zunahme der Kriminalität gerade bei Migranten erklärt er – Entschuldigung? – entweder mit der Not der arbeitslosen Migranten oder verweist gleich auf das „racial profiling“ der Polizeibehörden, das automatisch zu höheren Fallzahlen führe. Eine fragwürdige Argumentation, weil nicht zahlenmäßig belegt und ideologisch angehaucht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass er auf Clan-Kriminalität oder den Islamismus überhaupt nicht eingeht. Was nicht passt, wird ausgeblendet. Dasselbe gilt für die Parallelgesellschaften, die er einerseits als eine Übertreibung populistischer Politiker und Medien und andererseits als eine Folge der bewussten Ausgrenzung durch Arbeitsverbote seitens der Behörden darstellt. Dass viele Migranten wegen fehlender Sprach- und Fachkenntnisse gar nicht sinnvoll arbeiten können und außerdem nachvollziehbare Fragen des Aufenthaltsrechts einer sofortigen Vermittlung im Wege stehen, unterschlägt er.
Den durchaus einleuchtenden Einwand, Zuwanderung reduziere den wertschöpfenden Bevölkerungsstand der Herkunftsländer, kontert er einerseits mit der zwar nachvollziehbaren Behauptung, später würden diese Migranten in ihre Heimatländer zurückkehren, andererseits mit dem fragwürdigen Hinweis auf die Geldüberweisungen in die Heimat, die angeblich – ohne Nachweis! – ein Vielfaches der Entwicklungshilfe zur Bildung der Herkunftsländer beitrügen. Auch hier wieder Annahmen statt Nachweise.
Eine geradezu abenteuerliche Argumentation besteht darin zu behaupten, das vom Westen beklagte Schlepper- und Schleuserunwesen sei erst eine Folge der Grenzüberwachungen. Vordergründig stimmt das zwar, aber die von ihm geforderte uneingeschränkte Öffnung der Grenzen klingt wie die Empfehlung, Polizei oder Feuerwehr abzuschaffen, weil sie nachweisbar weder die Kriminalität noch die Brände abgeschafft hätten. De Haas sitzt auch hier dem ideologischen Wunschdenken auf, Migranten suchten nur gute und sinnvolle Arbeit und wüssten nichts von westlichen Sozialsystemen.
Der Autor glaubt außerdem im Falle offener Grenzen an eine Drehtür-Migration, bei der sich Ein- und Auswanderung ausgleichen. Migranten gehen demnach nach Hause zurück und kommen wieder. Dabei verweist er auf die Migrationsgeschichte zwischen Frankreich und Marokko, wo es sich so eingependelt habe. Ob das aber auch für weiter entfernte und kriegerische Gebiete wie Schwarz-Afrika und Afghanistan gilt, bleibt offen. Außerdem werden Migranten bei einer temporären Rückkehr in ihre Heimat kaum ihre hiesigen Wohnungen und Ansprüche auflösen, also auch wenig zu einer Entlastung beitragen.
Auch vermischt de Haas oft das Migrationsgeschehen und die staatlichen Reaktionen in Europa und den USA und überträgt die jeweiligen Erkenntnisse je nach Bedarf auf die jeweils andere Region, obwohl die Randbedingungen deutlich andere sind. Man kann die durchweg spanisch sprechenden und aus christlichen Milieus stammenden mittelamerikanischen Migranten nicht mit der sprachlichen und kulturellen Vielfalt afrikanischer oder vorderasiatischen Migranten gleichsetzen. Besser wäre gewesen, de Haas hätte diese beiden Regionen getrennt behandelt oder sich ganz auf Europa beschränkt.
Trotz all dieser Einwände ist festzustellen, dass de Haas in vielen Dingen Recht hat, vor allem was den Zuwanderungsbedarf Europas und eine sinnvolle Abdeckung desselben betrifft. Auch die apokalyptische Darstellung des Klimawandels als Ursache einer nahenden Massenmigration verweist de Haas mit guten Gründen in das Reich der NGO-Propaganda. Und trotz aller ideologischen Seitenhiebe – der Westen als kapitalistischer Ausbeuter und Nutznießer der Migration – bleibt seine Sprache wissenschaftlich nüchtern und wird niemals polemisch. Insgesamt ein lesenswertes Buch.
Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 512 Seiten und kostet28 Euro.
Frank Raudszus
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