„Der Leopard“ gehört zu den anfangs gering geschätzten Werken der Weltliteratur, die erst nach dem Tode des Verfassers weltweite Wertschätzung erfuhren. Im Falle dieses Romans kann man das auf die zeitliche Nähe des Stoffes und die seitdem entstandenen (welt)politischen Umbrüche zurückführen. Nach der Einigung Italiens und zwei Weltkriegen schien das Ende des Feudalismus in Sizilien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einfach nicht mehr interessant oder fast schon peinlich zu sein. Im Italien der 1950er Jahre war die kommunistische Partei eine der stärksten Bewegungen, und die rückwärtsgewandten Kräfte waren durch den gescheiterten Faschismus noch geschwächt. So missdeuteten viele diesen Roman wohl als eine Verherrlichung alter Feudalzeiten, was zwar verständlich war, aber Werk und Autor Unrecht tat.
Im Mittelpunkt des Romans steht zu Beginn – im Jahr 1860 – Fürst Don Fabricio aus dem sizilianischen Geschlecht der Salinas. Er steht nicht nur einem kinderreichen Haushalt mit zwei Wohnsitzen – je ein Palast in Palermo und auf dem Land – vor, sondern übernimmt auch unter der Führung des Königs von Neapel regierungsamtliche Geschäfte. Die katholische Kirche, aus guten Gründen schon immer im Einklang mit der feudalen Oberschicht, steht ihm sogar in Gestalt eines eigenen Jesuitenpaters zur Seite. Als Leser – oder besser: Hörer zweifelt man die Loyalität dieses Paters bisweilen an, doch der Autor deutet diese Reibung zwischen klerikalem und säkularem Selbstverständnis nur mit feiner Ironie an. Da die Zeiten eigener Vatikan-Armeen seit langem vorbei waren, musste die Kirche ihren Einfluss auf andere Weise geltend machen.
Don Fabricio hat nach dem Tod von Bruder und Schwägerin seinen Neffen Tancredi bei sich aufgenommen. Dieses Verhältnis weist starken metaphorischen Charakter auf, weil Tancredi sich mit Garibaldis Freiheitskämpfern verbündet, die zum Zwecke der Einigung Italiens in Sizilien eigefallen sind. Wie ein nicht zur Familie gehörender Parasit unterhöhlt er das Selbstverständnis der gesamten Familie, obwohl er als Mensch äußerst gewinnend ist und seine Intelligenz auf geschickte Weise einsetzt. Gerade sein Verzicht auf offene Konfrontation erhält ihm die Sympathien und gibt ihm den benötigten Freiraum. Don Fabricio selbst erkennt die Situation besser als seine feudale Umgebung einschließlich seiner Familie. Deutlich sieht er, dass die Zeit lokaler Feudalherren vorbei ist und die Formung einer italienischen Nation weder zu verhindern noch zu verurteilen ist. Es ist einfach der Geist der Zeit in ganz Europa, wenn nicht der Welt. Dass gerade die subalternen Kommunalpolitiker und Bewunderer des Fürsten die Zeichen der Zeit nicht erkennen, führt er auf ihre mangelnde politische Intelligenz und ihre kurzfristigen opportunistischen Interessen zurück.
Dass aber Tancredi sich ausgerechnet in die bildschöne Tochter des lokalen Bürgermeisters und Geschäftemachers Sedara verliebt, trifft ihn härter, da er als Onkel für seinen Neffen um die Hand des Mädchens werben muss. Don Fabricio, der sich mit seiner Bildung und seiner Erziehung einer anderen Schicht als der des plebejischen Bürgermeisters zurechnet, sieht jedoch seit Jahren den wirtschaftlichen Niedergang des auf Ländereien und deren Produkte angewiesenen Feudaladels und den Aufstieg des industriell und kaufmännisch orientierten Bürgertums. Damit ist das Ende seiner eigenen Klasse nur noch eine Frage der Zeit, und der eigene Neffe beschleunigt diese Entwicklung noch.
Diese Situation beschreibt di Lampedusa anhand des alltäglichen Lebens der Familie und der externen Einflüsse, denen sie ausgesetzt ist. Das ist beste epische Erzählung in einer breit ausladenden Sprache, die stets mit einer guten Portion Ironie ausgestattet ist. Die Erkenntnisse des Autors laufen dabei durch den Kopf und dann durch den Mund des Fürsten Salina, der zwar stets in der dritten Person auftritt, aber in gewisser Weise das „alter ego“ des Autors darstellt. Das kommt besonders gut zum Ausdruck, wenn die ersten Institutionen des sich einigenden Italiens Don Fabricio als Teil der noch zu schaffenden Gremien und Entscheidungszirkel gewinnen wollen. In einer langen Erklärung sagt er dem extra nach Sizilien gereisten Abgesandten nicht nur ab, sondern hält ihm eine kleine Privatvorlesung über die politische Entwicklung des Landes. Dass er dabei kräftige satirische Kritik an dem Selbstverständnis der eitlen und selbstherrlichen Sizilianer übt, spiegelt di Lampedusas Meinung über die Sizilianer wieder, die man in diesem Fall jedoch getrost als Stellvertreter für ganz Italien betrachten kann.
Wenn Don Fabricio dann 1883 stirbt, scheint der Roman sein Ende erreicht zu haben, doch es folgt noch ein Epilog im Jahr 1910 mit ebenfalls metaphorischem Charakter. Jetzt wohnen nur noch Don Fabricios drei unverheiratete Töchter in dem langsam verlotternden Palast und warten in ergebener Frömmigkeit nur noch auf ihr Ende. Selbst die Kirche hat den Respekt vor dem Haus Salina verloren und säubert kategorisch, wenn auch in der Form sehr freundlich, die Hauskapelle von falschen Reliquien. Als dann auch noch ein alter Kampfgefährte Tancredis ohne böse Absicht eine über Jahrzehnte gehütete Selbstlüge der ältesten Tochter zerstört, ist dem Haus Salina auch in den eigenen Augen der drei Damen die letzte Daseinsberechtigung genommen. Doch di Lampedusa spart sich die Schilderung ihres Todes und überlässt das der Phantasie der Leser bzw. Hörer.
Thomas Loibl liest diesen Jahrhundertroman mit der volltönenden Stimme eines gereiften Feudalherren, dem die Vergänglichkeit aller Herrlichkeit klar geworden ist, und setzt damit nicht nur dem Autor di Lampedusa, sondern auch seinem Protagonisten Don Fabricio und seiner dahingegangenen Klasse ein Denkmal.
Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg in der Reihe Osterwold erschienen, umfasst acht CDs mit einer Gesamtlaufzeit von knapp zehn Stunden und kostet 24 Euro.
Frank Raudszus
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