Julien Green (1900 bis 1998) war bereits in seinen Zwanzigern, also in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, ein sehr erfolgreicher Schriftsteller. Als Sohn amerikanischer Eltern wuchs er in Paris auf. Als amerikanischer Staatsbürger konnte er während der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten ohne Probleme in die USA gehen, wo er an verschiedenen Colleges unterrichtete, 1943 arbeitete er im „Office of War Information“. Nach 1945 kehrte er nach Frankreich zurück. Er verfasste die meisten seiner Werke auf Französisch.
„Treibgut“ erschien 1932 zunächst als Vorabdruck in der „Revue de Paris“. Für die ebenfalls 1932 erschienene Buchausgabe überarbeitete Green den Roman noch einmal und nahm umfangreiche Kürzungen vor.
Die Handlung von „Treibgut“ spielt im Paris der Jahre 1929 bis 1932. Der Protagonist Philippe ist – bis auf einen kleinen Rechenfehler, den Green übersah – altersgleich mit dem Autor.
Philippe ist zu Beginn der Handlung 31 Jahre alt. Verheiratet ist er mit der 28-jährigen Henriette. Beide leben in einer luxuriösen Wohnung zusammen mit der unverheirateten 31 Jahre alten Elaine, der Schwester von Henriette. Philippe ist durch gute Geschäfte seines Vaters zum Erben eines so großen Vermögens geworden, dass er nur einmal im Jahr an der Sitzung des Verwaltungsrats des Energieunternehmens teilnehmen muss, dessen Teilhaber er ist. Arbeiten muss er nicht. Seine Frau und ihre Schwester kommen aus ärmlichen Verhältnissen, Henriettes Heirat mit Philippe bedeutet den völlig unerwarteten Sprung in die Welt des großbürgerlichen Luxus.
Green präsentiert seine drei Figuren als Gefangene einer Welt, in der es keine Ziele, keine notwendige Arbeit und kein geselliges Leben gibt. Die drei führen ein nach außen völlig geordnetes Leben, dessen Alltag keine Höhen und Tiefen zu haben scheint. Umso mehr brodelt es in diesen Menschen, die in innerer Einsamkeit nebeneinander her leben.
Philippe hat seit der Hochzeitsnacht jedes Interesse an seiner zwar schönen, aber kindischen Frau verloren. Beide leben in der Wohnung ein voneinander unabhängiges Leben. Dennoch ist Philippe seiner selbst sehr sicher. Er weiß, dass er ein schöner und kultivierter Mann ist, der mit seinem Leben zufrieden sein kann. Tagsüber liest er, befasst sich mit Kunst und Literatur. Sein Bedürfnis nach Kommunikation befriedigt er, indem er seine Schwägerin als Zuhörerin benutzt.
Nachts aber streift er durch Paris, vorzugsweise durch die proletarische Umgebung der Seine-Brücken. Was er dort sucht, ist ihm selber nicht klar, der Leser kann es nur ahnen. Green gibt in seinen Tagebüchern dazu Hinweise, die hier aber nicht verraten werden sollen.
Philippes Selbstzufriedenheit wird durch eine nächtliche Begegnung mit einem streitenden, eindeutig als proletarisch definiertem Paar an der Seine zutiefst erschüttert. Er flieht vor dem Hilferuf der Frau. Diese Flucht verfolgt ihn von nun an. Er sieht sich als mutlosen, entschlussunfähigen Jammerlappen, der weder in einer Notsituation eingreift noch zu Hause irgendwelche Änderungen durchsetzen kann. Eine diffuse Angst bestimmt ab jetzt sein Leben.
Auch die Frauen haben ein Eigenleben. Henriette flieht aus der täglichen Langeweile in den Kopfschmerz und damit in den Rückzug ins Bett. Zweimal in der Woche trifft sie sich mit einem Mann, der in ärmlichen Verhältnissen lebt, den sie nicht begehrt und schon gar nicht liebt. Vielmehr ist sie gerade von der Ärmlichkeit angezogen, die sie in ihre Kindheit zurückfallen lässt, die ihr in ihrer Begrenztheit Schutz und Sicherheit gegeben hat. Der neue Luxus dagegen ist für sie eine fremde Welt, die sie innerlich erstarren lässt.
Elaine dagegen ist die Strategin in diesem Dreiergespann. Sie ist nur in dem Haushalt wegen ihrer heimlichen Liebe zu Philippe. Sie scheint sich damit zu begnügen, in seiner Nähe sein zu können, was sie lange selbst glaubt. Tatsächlich toben in ihr die widersprüchlichsten Gefühle zwischen aufwallender Leidenschaft und tiefem Hass, zwischen Wut und Zuneigung.
Green schildert eine Welt der Dekadenz, in der die Menschen Opfer ihres Reichtums sind. Sie sind untätig in ihrer von äußeren Formen bestimmten Welt, in der alle Tätigkeiten von unsichtbarem Dienstpersonal übernommen werden. Auch die üppige, großbürgerliche Ausstattung der Räume ist erstarrt, Stoffe und Polster sind schon zum Teil verblichen, eine Sanierung des Hauses wäre nötig, aber niemand kann sich aufraffen, etwas zu verändern. So scheinen alle drei durch ihr Leben zu treiben, zu welchem Ziel, ist völlig unklar. Selbstmordphantasien begleiten dieses leere Leben.
Einzig der 10-jährige Sohn Robert, der die Ferien bei den Eltern verbringt, weckt Philippe aus seiner Gleichgültigkeit. Der Junge wird zum Objekt seiner Sehnsucht nach Liebe. Ob Robert nur ein Ersatzobjekt ist, bleibt offen.
Green zeigt diese Welt des Stillstands in personaler Erzählhaltung mit wechselnder Perspektive. Wir tauchen unmittelbar ein in die Innenwelt der drei Protagonisten und haben teil an den Abgründen ihrer seelischen Verfassung. Am stärksten sind die Ausschläge in extreme Stimmungslagen bei Elaine, die zwischen Machtgier und Verzweiflung hin- und hergerissen ist. Auch in den Begegnungen der Figuren hält sich der Erzähler zurück. Green präsentiert sie als szenische Dialoge, so dass wir als Leserinnen unmittelbar dabei sind.
Damit zeigt sich Green als moderner Autor, der uns als Leser und Leserinnen nicht mehr schützend als allwissender Erzähler an die Hand nimmt, das Geschehen nicht kommentiert und seine Figuren nicht interpretiert. Das müssen wir selbst leisten.
Räumlich gibt es ein Außen und ein Innen in dem Roman. Tagsüber spielt sich das Geschehen in den Innenräumen ab, hier treffen diese einsamen Menschen aufeinander, ohne sich wirklich zu begegnen. Die Räume sind mehr Kulisse als Geborgenheit bietendes Zuhause.
Die Nacht ist die Zeit, in der sie dieser Enge entfliehen. Paris mit seinem Nebel, seinem Lärm und dem Wasser der Seine steht für die Sehnsucht nach einer neuen Lebendigkeit und für die Suche nach Liebe, die sie aber auch in der Verschwommenheit der nächtlichen Welt nicht finden. Sogar Elaine macht einen Ausbruchsversuch aus der räumlichen Enge, bei dem sie die nächtliche Natur gleichzeitig als Verführerin und als Bedrohung empfindet. In der Unsichtbarkeit der Nacht darf man Gefühle haben.
Der Roman hat mich als Leserin nicht losgelassen. Green lässt uns spüren, dass dieses Großbürgertum eine Welt verkörpert, die an ihr Ende gekommen ist. Die Menschen scheinen an einem Abgrund zu leben, den sie nicht sehen. Ob Green die bevorstehende Katastrophe in Europa vorhergesehen hat, kann man in seinen Tagebüchern nachlesen.
Sehr lesenswert ist das informative Nachwort des Übersetzers Wolfgang Matz.
Wer mehr von Green lesen will, dem oder der empfehle ich den frühen Roman „Adrienne Mesurat“, den ich vor ein paar Jahren verschlungen habe.
Das Buch ist 2024 in der neuen Auflage in der Übersetzung von Wolfgang Matz im Hanser Verlag erschienen. Es hat 400 Seiten und kostet 28 Euro.
Elke Trost
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