Über nicht wenige herkömmliche Opern lauten die Urteile, dass die Musik ein miserables Libretto aus dem Feuer der Vernichtung gerissen habe, was man etwa bei Mozarts „Zauberflöte“ mit einigem Recht sagen könnte. Das liegt wohl in erster Linie daran, dass sich am Wort, dem Statthalter des „Logos“, gerne politisch oder gesellschaftlich überhitzte Gemüter abarbeiten und Ideologien aller Art – oftmals gegen jegliche Logik – in eine entsprechende Botschaft umsetzen. Das ist bei der Musik in erster Näherung nicht möglich, weil sie in ihrer Aussagekraft keinem logischen Denkmuster folgt, sondern sich über einen eigenständigen, weitgehend sinnlich geprägten Ausdruck von logischen Denkmustern emanzipiert. Frei nach Gertrude Stein: Musik ist Musik ist Musik!
Diese Erkenntnis lässt sich auch am Beispiel des „immersiven Musiktheaters“, so die offizielle Bezeichnung, mit dem Titel „Freedom Collective“ des Kollektivs Emmerig (Bühne & Kostüm), Horwitz (Regie), Hut Kono (Libretto), Petrovic (musikalische Leitung), Vincze (Komposition) und Wernecke (Video & Licht) verifizieren. Wer das Programmheft nicht gelesen hat, wird den Verlauf der Handlung, wenn man diese denn so nennen kann, kaum verstehen. Szenen im eigentlichen Sinne, also Dialoge und Interaktionen zwischen Menschen, gibt es kaum, oder sie sind symbolisch derart abstrahiert, dass sie sich kaum auf alltägliche Lebenserfahrung abbilden lassen. Darüber hinaus erfährt man im Programmheft viel über den Hintergrund – Stichworte wie (non-binäre Gender, repressive Mehrheiten versus nach Freiheit hungernden Minderheiten, Banalisierung der Gesellschaft versus (unterdrückte) Kreativität des Individuums -, der dann aber in der Aufführung überhaupt nicht zur Sprache kommt.
Ähnliches gilt für den Anspruch des „immersiven“ Theaters, womit die aktive Einbeziehung des Publikums in den Ablauf gemeint ist. Dazu erhielt jeder Besucher (generisches Maskulinum!) Zugang zu einer Online-App, mit der er/sie sich später in den Verlauf einklinken können sollte. In der Praxis beschränkte sich das jedoch auf die akustische Präsentation der in der App erzeugten Hintergrundgeräusche, die dann auch nur kurze Zeit zu hören waren. Echte Beteiligung eines zahlreichen Publikums ist – wenn überhaupt – nur mit einer gewissen Vorbereitung und Auswahl möglich, soll sie nicht im Chaos der Beliebigkeit enden.
Auch die Entscheidung, das Publikum auf einer im Bühnenrückraum installierten Tribüne zu platzieren, hört sich zwar gut an, führt aber zu keiner einschneidenden Veränderung der üblichen Verteilung zwischen Bühnenaktion und Publikum. Die Aufführung läuft weitgehend in der klassische Frontalversion ab, nur halt in einer etwa anderen Umgebung. Das Orchester sitzt vorne am eisernen – jetzt heruntergelassenen – Vorhang und erreicht dadurch eine wesentlich größere Präsenz. Darüber wird später noch zu reden sein.
Vor dem eigentlichen Beginn nimmt das Publikum im Zuschauerraum vor dem eisernen Vorhang Platz und sieht den vier Hauptdarstellern – Janina Schweitzer als Ernährungswissenschaftlerin Fan, Nike Tiecke als Medizinerin Zsuszi, Constanze Jader als Kämpfer Andrei und Georg Ferstl als Boxtrainer Karl – beim schweigsamen Abschreiten der Zuschauerreihen zu. Keine Aktion, kein Text, keine Musik; erst nach einer Viertelstunde hört man leise das tiefe Raunen elektronischer Musik, dann hebt sich der Vorhang, und das Publikum wandert auf die Bühne, während die Bedeutung dieses schweigsamen Vorspieles im hellen Zuschauerraum hängen bleibt.
Die Handlung ist denkbar einfach und entspricht – Ironie der Banalität – den typischen Konflikten der „klassischen“ Oper. Fan und Karl sind liiert und kämpfen in einer ihnen kalt und feindlich gesinnten Umwelt – Programmheft-Wissen! – um ihr Überleben, zumal Karl laut Zsuzsi ein neues Organ benötigt. Im Kämpfer Andrei erkennen sie das Transplantationsopfer und planen einen tödlichen Organraub; doch als Karl zwischenzeitlich mit Zsuzsi fremdgeht, lässt Fan Verabredung und Beziehung platzen und Andrei überleben. Dieser Handlungsablauf lässt sich bruchstückhaft aus den gesungenen Texten und aus dem Programmheft herleiten, enthält jedoch keine ethisch oder moralisch eindeutige Aussage.
Diese Bedeutung sollen dann Elemente des Bühnenbildes liefern. Alle vier Darsteller stehen oder hocken auf Podesten mit Videoschirmen im Rücken, auf denen entstellte Avatare in absurden Situationen erscheinen. Sie sind mit Drahtseilen an ihr Podest fixiert, durch die kalten Konventionen und Kategorisierungen der Gesellschaft an den ihnen zugewiesenen Platz – Mann, Frau – gefesselte Individuen. Sie tragen ihre Gesangstexte anfangs von ihren Podesten vor und später, nach einer „von oben“ verfügten Freilassung als Individuen mit hoffnungsgeladener Leuchtröhre von der Bühne aus. Dieses „von oben“ soll die moderne Version des barocken „deus ex machina“ sein, was wohl als Ironie gemeint war, aber als bittere auf die logisch fragwürdige Inszenierung zurückschlägt.
So bleibt dann nur noch die Musik, und die ist wirklich großartig. Nach den anfänglichen elektronischen Clustern übernimmt das Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Premil Petrovic das Kommando auf der Bühne und intoniert einen beeindruckenden Klangrausch aus den verschiedensten Elementen. Neben dem „Mainstream“ zeitgenössischer Musik, die weniger auf Harmonien und Melodien als aus Klangkombinationen der verschiedensten Ausprägungen besteht, kommen zarte Bläserthemen zu Gehör, die auch der Romantik oder gar der Klassik gut zu Gesicht gestanden hätten. Doch Davor Vinczes Partituren verlieren sich keinen Augenblick in musikhistorischen Reminiszenzen, sondern lassen immer nur kurze Ahnungen älterer Musik aufblitzen. Im Vordergrund steht die musikalische Abbildung der Gegenwart mit allen Facetten tonaler und atonaler Musik, die sich immer wieder überschneiden und permanent neue Eindrücke erschaffen. Das Orchester ist bei dieser Interpretation ganz bei sich und bei Premil Petrovic – und umgekehrt. Man kann diese Musik sicher nicht mit dem Attribut „schön“ belegen, aber sie nistet sich in jede Faser des menschlichen Hörapparats und der daran hängenden Interpretationsorgane ein. Man kann sich dieser Musik in ihrer Intensitätsbreite vom mächtigen Klangrausch bis zum leisesten Pianissimo nicht entziehen.
Das Gesangsensemble bewegt sich musikalisch auf Augenhöhe mit dem Orchester und besticht durch stimmliche Qualität. Leider werden die Stimmen – wie im Musical – per Micro verstärkt, was bisweilen einen unnatürlichen Klang zur Folge hat, aber wahrscheinlich hätten sie „unplugged“ keine Chance gegen das Orchester. Hier geht es nicht um eine feine Austarierung von Gesang und Orchester, sondern um möglichst hohe akustische Wirkung, die auch tatsächlich eintritt. Allerdings geht dabei die emotionale Bandbreite menschlicher Selbstdarstellung verloren, und es bleibt der laut herausgesungene Protest gegen eine als falsch empfundene Welt – wie im Rap oder Hiphop. Wie sich diese Entwicklung einordnen lässt in Gegenwart und Zukunft des Musiktheaters, bleibt offen.
Der Beifall des Premierenpublikums galt in erster Linie den Akteuren auf der Bühne, wobei das Orchester offensichtlich im Mittelpunkt stand. Und das war auch gut so.
Frank Raudszus
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