In der Oper bezeichnet der Begriff einer „konzertanten“ Aufführung, dass die Gesangsnummern ohne Bühnenbild und szenischen Hintergrund an der Rampe mit dem Orchester im Rücken vorgetragen werden. Das sängerische Personal hat zwar gewisse Freiheiten hinsichtlich Mimik und Gestik, spielt jedoch die Szenen nicht aus. Gründe für diese Art der Darstellung sind meist finanzieller, personeller und terminlicher Art.
Am Staatstheater Darmstadt hat Antje Schupp für die Bühnenfassung von Anne Webers Buch „Annette. ein Heldinnenepos“, das wir hier bereits im Jahr 2020 vorgestellt haben, eine ähnliche Form gefunden. Das vierköpfige Ensemble – Berna Celebi, Gabriele Drechsel, Edda Wiersch und Béla Milan Uhrlau – trägt den Buchtext in verteilten Rollen vor, ohne ihn jedoch in eine konkrete Dialogform umzuformen. Dabei beleben die vier ihre jeweiligen Texte lediglich durch Mimik und Gestik, ohne bestimmte Personenrollen des Buches zu übernehmen. Zwar stellen sie in kurzen Szenen die jeweiligen Personen nach, jedoch ohne sie zu eng mit dem Text zu verzahnen oder gar konkrete Handlungen nachzuspielen. Man könnte diese Art der Darstellung auch als „animierte Lesung“ bezeichnen, doch aufgrund der körperlichen und verbalen Interaktionen der vier Darsteller wirkt diese verteilte Animation wesentlich eindringlicher und wirklichkeitsgetreuer.
Die Verteilung der Rollen, wenn man die darstellerischen Aktionen so nennen will, erfolgt grob nach der Handlung. Wenn von Männern die Rede ist, übernimmt Béla Milan Uhrlau die Darstellung, und wenn es nur ein machohaftes Lachen über die vermeintliche Naivität der Frauen ist; Gabriele Drechsel steht für die bereits reifere Annette, übernimmt jedoch auch Textbausteine aus der Frühphase der Hauptperson. Die beiden jüngeren Darstellerinnen stehen dann für die junge Annette und andere junge Frauen in Zeiten des Widerstands.
Die Rollenzuteilung ist nie fest, wie im klassischen Theater, sondern bewegt sich ständig zwischen Handlungs- und Metaebene. Da kann etwa Edda Wiersch eine Szene aus Annette Beaumanoirs Leben skizzieren und fast im selben Augenblick die Frage stellen, warum Annette so gehandelt hat. Oder an anderer Stelle werden Vermutungen und Erklärungen zu einer gerade vorgetragenen Szene in den Kontext eingebunden. Das ist ein deutlicher Verweis auf die Buchautorin, die ebenfalls Annettes Leben szenenweise nicht nur beschreibt sondern auch analysiert und gar in Frage stellt. Auf diese Weise wird das Ensemble zu seinem eigenen Publikum, wechselt sozusagen von der Bühne in die erste Reihe und zurück. Mit dieser Art der Inszenierung bindet das Ensemble das Publikum eng in die Aufführung ein, ohne in platte „Anmache“ zu verfallen. Da sich das Ensemble nicht eineindeutig mit den Rollen des Buches identifiziert, sondern sie in einer Art agierenden Erzählens vorträgt, wahrt es bis zum Schluss eine gewisse Distanz und verlangt damit auch vom Publikum eine – zumindest innere – Stellungnahme.
Da sich die Buchvorlage auf rund 200 Seiten beschränkt, könnte man annehmen, dass diese Inszenierung nicht weiter als eine Stunde trägt. Doch Antje Schupps Bühnenversion kann von der Dauer mit jedem Bühnenklassiker von Shakespeare bis Schiller mithalten. Gut drei Stunden einschließlich Pause – letztere mittlerweile übrigens eine Seltenheit! – nimmt diese Inszenierung in Anspruch, und erstaunlicherweise kommt keinen Augenblick Langeweile auf. Natürlich hätte man den Stoff auch ohne große Verluste auf eineinhalb Stunden kürzen können, aber gerade die Wiederholung ähnlicher Abfolgen – Empörung, Widerstand, Entsagung und Enttäuschung – in unterschiedlichen, aber sehr ähnlichen Situationen verleiht dieser Inszenierung ihre Eindringlichkeit und Widerständigkeit. Annettes Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit löst sich dadurch aus den jeweils konkreten Zusammenhängen und gewinnt eine eigene, geradezu metaphysische Authentizität, die sich mit reiner Vernunft nicht untermauern lässt. Nicht umsonst zitiert Béla Milan Uhrlau zum Schluss Albert Camus´ Feststellung „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ So stellt man sich am Ende auch Annette Beaumanoir als „glückliche“ Frau vor, die zwar ihr Privatleben für politische Kämpfe opferte, die jedesmal ihre Ideale konterkartierten, aber dennoch jedesmal ohne Zögern den nächsten Kampf aufnahm.
Das Ensemble glänzt in dieser Inszenierung unter der Regie von Antje Schupp mit hellwacher Präsenz und einer gelungenen Gratwanderung zwischen engagierter Darstellung der fast schon tragisch zu nennenden Geschichte und einer fragenden Distanz, die durchaus Züge von Humor zeigt.
Das Premierenpublikum dankte allen Beteiligten mit starkem Beifall.
Frank Raudszus
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