Alcina und AndroID, Barock und Beretta

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Man kann Händels Märchenoper „Alcina“ durchaus als ein frühes Werk der Aufklärung betrachten. Die Opern im Barock spielten wegen des feudalen Publikums meist im Bereich der göttlichen Instanzen oder mythischen Legenden, um jegliche kritische Annäherung an gesellschaftliche Zustände zu vermeiden. Doch Händels „Alcina“ stellt plötzlich einen Menschen in den Vordergrund, der andere Menschen schamlos ausnutzt und unterdrückt und gegen den sich die Unterdrückten erheben und sich befreien. Vor Jahren war in Darmstadt eine märchenhafte Version zu sehen, die tatsächlich das Verwunschene in den Mittelpunkt stellte. Dort mutierte Bösartigkeit wie im Kindermärchen zu etwas Irrealem, das sich schließlich dem Guten beugen muss.

Ensemble

Nun hat sich die Regisseurin Nina Russi wieder mit diesem barocken Stoff befasst und ihn so präsentiert, wie ihn Händel vielleicht sogar auf subtile Art gemeint hat: als Kritik an den herrschenden – feudalen – Verhältnissen. Hier herrscht Alcina auf einer Insel, zwar als Zauberin, aber nicht als unnahbare Göttin. Die „märchenartige“ Zauberei stellt das Feigenblatt für die Zensur dar, doch die Handlung ist handfest menschlich – und deutlich. Alcina hat Liebhaber beider Geschlechter auf die Insel gelockt und nach Gebrauch in Tiere und dienstbare Geister ohne Erinnerung verwandelt. Derzeit vergnügt sie sich mit Ruggiero, ehemals Geliebter von Bradamante. Diese kommt in Männerverkleidung als „Ricchiardo“ zusammen mit Melisso auf die Insel, um Ruggiero zurückzuerobern, doch dieser erkennt sie nicht und verlacht sie gar. Im Hintergrund zieht Alcina die Fäden. Ihre Schwester Morgana, liiert mit Alcinas Feldherrn Oronte, verliebt sich in den feschen Ricchiardo und gibt Oronte den Laufpass.

Es ist also für ausreichend Konfliktstoff gesorgt, denn jeder misstraut jedem. Natürlich spielt in einer solchen barocken Oper der Unterhaltungswert eine große Rolle, also kommt es aufgrund der Verkleidungen und Verdächtigungen zu dramatischen Verwirrungen und Konflikten, die durch plötzliche Erkenntnisse à la „deus ex machina“ erzeugt und auch wieder aufgelöst werden. Am Ende besteht ausgerechnet Bradamante entgegen dem allgemeinen Frauenbild des Barocks darauf, Alcinas repressives Reich zu zerstören und alle Gefangenen zu befreien. Ruggiero und Bradamante sind glücklich vereint, Morgana und Oronte auch – zumindest halbwegs -, und Alcina sieht alleine und ohne Zauberkraft einem traurigen Alter entgegen.

Solgerd Isalv und Ana Durlovski

Nina Russi hat sich für diese Inszenierung von Susanne Gschwender eine weiße Bühnenkonstruktion bauen lassen, die eher an einen edles Wellness-Domizil als an eine mythische Insellandschaft erinnert, und schafft dadurch ein zeitloses, ja: modernes Ambiente. Auf ähnliche Weise hat Annemarie Bulla die handelnden Personen in zwar allegorische, aber stilistisch moderne Kostüme gesteckt. Und sowohl Ruggiero(Solgerd Isalv) als auch Oberto (Karola Sophia Schmid) verleiht sie mit Kleidung und Haarschnitt eine zumindest androgyne Ausstrahlung. Die heutige Besetzung von Männerrollen mit Frauen dürfte auf die Kastraten zurückzuführen sein, die zu Händels Zeit hoch im Kurs standen und bestimmte Männerrollen übernahmen. Nina Russi nimmt das ernst und verleiht ihrer Inszenierung damit einen wenn auch gemäßigten Gender-Aspekt. Bradamante (Lena Sutor-Wernich) ist nicht nur als Mann verkleidet, sondern zeigt bis zum Schluss eher männlich konnotiertes Verhalten.

Die Zeitebenen löst sie durch pointierte Epochenbrüche auf, indem sie Bradamantes Begleiter Melisso (Johannes Seokhoon Moon) Selfies mit einem Smartphone aufnehmen und den eifersüchtigen Oronte mit einer Pistole auf Ricchiardo alias Bradamante zielen lässt. Damit sind deutliche Verlängerungen in die Gegenwart gezogen, ohne die Handlung zwecks Aktualisierung verbiegen zu müssen.

Auch die Personenregie erfolgt eher psycho- denn mythologisch. Alcina ist eine kühl kalkulierende Person, der man die baldige Verwandlung des liebestrunkenen Ruggiero in ein Tier durchaus zutraut. Auch in der Niederlage wird sie nicht zur irrationalen Furie, sondern versucht, die Katastrophe rational zu verarbeiten. Bradamante erinnert eher an eine Revolutionärin des 20. Jahrhunderts denn an eine weinend nach dem verlorenen Geliebten suchende Frau des Barock. Diese Bradamante braucht keinen Aufpasser Melisso, sie beherrscht die Situation allein. Morgana (Mercedes Arcuri) ist tatsächlich Alcinas Schwester „im Geiste“, indem sie kühl kalkulierend nach der besten Liaison sucht, und da ist der junge, dynamische Ricchiardo alias Bradamante gegenüber dem schon leicht abgewrackten Oronte (Ricardo Garcia) eindeutig im Vorteil. Und auch sie plagen keine mythischen Ängste, sondern eher die Furcht, den Kürzeren zu ziehen.

Ensemble

Das Problem an dieser „weichen“ Aktualisierung ist jedoch, dass sie nicht durchschlagend wirkt, sondern als Accessoire einer barocken Märchenoper daherkommt. So verliert Händels Oper ein wenig von dem märchenhaften Flair, gewinnt aber dafür nicht an gesellschaftlicher Schärfe. Denn für letzteres fehlen die konkreten Anknüpfungspunkte im Libretto. Es bleibt halt eine Komödie des Begehrens und der Eifersucht und der damit einhergehenden Verwirrungen und Aggressionen. Der Chor leistet dabei noch den deutlichsten Beitrag, indem er lange Zeit lautlos als verwandelte Geister in verschiedenen Konstellationen und mit maskierten Gesichtern die Bühne ausfüllt und nach der Befreiung in eine freudige Ohnmacht verfällt. Später wird der dann – fast wie Beethovens Gefangenenchor – seine neu gewonnene Freiheit auch sängerisch feiern.

Die sängerischen Leistungen sind beeindruckend, wobei Ana Durlovski wegen ihrer darstellerischen und sängerischen Variationsbreite als erste zu nennen ist. Aber Solgerd Isalv, Mercedes Arcuri und Lena Sutor-Wernich stehen ihr kaum nach, auch wenn sie nicht die großen Solo-Auftritte zu bewältigen haben. Dagegen absolviert Karola Sophia Schmid ihre Arie mit Bravour.

Ricardo Garcia, Juliana Zara und Karola Sophia Schmid

Angenehm fällt auch auf, dass die Stimmen grundsätzlich nicht verstärkt werden. Dadurch entsteht eine fast kammermusikalische Atmosphäre, die auch vom Orchester durch entsprechende Zurückhaltung befördert wird. Man war sich wohl der Tatsache bewusst, dass diese Barockopern schon aus technischen Gründen kammermusikalische Züge trugen, und wollte diese Tradition auf jeden Fall fortsetzen. Das ist angesichts der klagenden und das Leid ertragenden Grundstimmung der Barockmusik auch zu begrüßen. Lautstärke um ihrer selbst willen wäre hier kontraproduktiv gewesen.

Das Publikum nahm diese Inszenierung mit großer Zustimmung auf und spendete anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

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