Der Linzer Philosophie-Professor Robert Pfaller ist für seine offenen Worte bekannt, die auch gerne den Bereich der politischen Korrektheit verlassen oder diese sogar gezielt aufs Korn nehmen, so etwa in seinem Buch über das Lob der Verschwendung. In dem vorliegenden Buch geht er vermeintlichen Irrtümern des wissenschaftlichen Mainstreams zum Phänomen der Scham nach und widerlegt sie – soweit das bei psychologischen Themen möglich ist – mit neuen Perspektiven und Begründungen.
Die Scham – wie ihr treuer Begleiter Schamlosigkeit – ist wohl eine der existenziellsten menschlichen Empfindungen. Wir kennen sie alle sowohl aus dem körperlichen – vor allem sexuellen – Umfeld als auch als geistig-seelischen Komplex des Ungenügens bzw. des Fehlverhaltens. Jede(r) von uns hat sich schon einmal im Stillen über falsche Äußerungen oder auch Gedanken geschämt, ganz gleich, ob diese in irgendeiner Form wahrgenommen wurden oder nicht.
Laut Pfaller sieht die entsprechende Forschung – etwa die Soziologie oder Psychoanalyse – die Scham als ein „außengeleitetes“ Phänomen, bei dem vor allem die Angst vor der Wahrnehmung und Kritik seitens der Gesellschaft Auslöser des Schamempfindens sei. Die Schuld dagegen entspringe dem – schlechten – Gewissen über eine falsche Handlung und damit dem eigenen Moralverständnis. Die in gewissen – vor allem asiatischen – Kulturen anzutreffende Dominanz der Scham – „Gesichtsverlust“! – gegenüber dem Schuldgefühl wird dann gerne umgedeutet in eine geistig-moralische „Rückständigkeit“ dieser Kulturen gegenüber ihrem westlichen Pendant.
Dieser an Rassismus grenzenden Arroganz erteilt Pfaller eine deutliche Absage; allerdings nicht (nur) aus Gründen einer politischen Korrektheit, sondern aus wissenschaftlicher Sicht. Schritt für Schritt widerlegt er diese Sicht der „Außenleitung“ durch Gegenbeispiele. Das ist natürlich auf diesem Gebiet zumindest problematisch, denn einen logisch ableitbaren Beweis wie in den Naturwissenschaften gibt es weder in der Philosophie – vom Wiener Kreis mal abgesehen – noch in der Psychoanalyse, die das Seelenleben eines Probanden auch nicht mit mathematischen Methoden zerlegen kann.
Es sind also stets mehr oder minder einleuchtende Theorien, die aufeinanderprallen. Die halten sich dann stets an Fallbeispiele. Das tut auch Pfaller, indem er einerseits auf die „stille“ Scham verweist, die wir schon für eigene moralisch minderwertige Gedanken empfinden, ohne dass Außenstehende diese wahrgenommen haben. Weiterhin weist er auf den Begriff der Diskretion hin, den er als Teil der „Schamhaftigkeit“ einordnet, und die beschämendes Verhalten anderer solange gnädig ignoriert, wie es nicht offenkundig wird. Als Beispiel führt er den Fall eines Indigenen an, der sein beschämendes, aber von der Gemeinschaft stillschweigend ignoriertes Fehlverhalten erst mit dem Freitod beendet, als ein Rivale dies öffentlich macht. Allerdings ist dieses Beispiel zumindest zwiespältig, da letztlich die öffentliche Meinung, also die „Außenleitung“, auch hier eine Rolle spielt. Dennoch kann man Pfaller in der Umkehrung der wissenschaftlichen Deutung vor allem wegen des „inneren Schämens“ folgen. Um dies herzuleiten, geht Pfaller detailliert auf die Erkenntnisse und Aussagen der einschlägigen Wissenschaften ein und zitiert sowohl zustimmende als auch ablehnende Literatur eingehend. Darauf hier einzugehen, würde jedoch den Rahmen dieser Rezension sprengen.
Im zweiten Teil greift er die Sicht Sigmund Freuds und anderer psychoanalytischer Größen an, die Scham sei eine Bestrafung des „Ichs“ durch das „Über-Ich“ wegen nicht erreichter bzw. verratener Ideale, etwa wie ein erfolgreicher Vater seinen versagenden Sohn abkanzelt. Dem setzt er die Erfahrung entgegen, dass sich die Scham stets etwas „wegwünscht“. Ein existierendes, „oben“ angesiedeltes Ideal kann das Ich jedoch nicht wegwünschen. Pfaller identifiziert stattdessen ein „Unter-Ich“, das die gesamten Lebensbeigaben des „Ich“ – (mangelhafter) Körper, Geist und Gedanken – als ein „Zuviel“ empfindet und sie zum Verschwinden bringen möchte. Dieser Zustand ist (hoffentlich!) uns allen unter dem Sprichwort „vor Scham im Boden versinken“ bekannt. Auch hier belegt Pfaller seine Sicht detailliert mit vielen Zitaten aus der einschlägigen Literatur, wobei er die Defizite der herkömmlichen Interpretation logisch einleuchtend darlegt. Doch auch hier gilt: Man kann nicht mit der logischen Taschenlampe in die menschliche Psyche leuchten und eine hieb- und stichfeste Erklärung bieten. Pfaller bemüht sich jedoch um eine möglichst stringente Herleitung und führt eine Reihe einleuchtender Argumente vor, die für seine Argumentation sprechen.
Im Anhang kommt dann noch einmal der „typische“ Pfaller durch. Nach einem kurzen Ausflug in das Thema des „Obszönen“ nimmt er im „Epilog“ die Identitätsbewegung aufs Korn. Für ihn stellt die derzeitige westliche Kultur eine „Abstiegsgesellschaft“ dar, die keinen zukunftsträchtigen Optimismus und den als Pendant der Scham geltenden Stolz mehr entwickelt. Man zieht sich in eine authentische „Identität“ wie in den primären Narzissmus des Kleinkindes zurück und betrachtet alle Stärkeren, Besseren und Erfolgreicheren als unfaire Bedrohung der eigenen Bedeutung. Beispiele sieht er darin, dass nicht nur aktuelle Prominenz per „Shitstorms“ hingerichtet wird, sondern auch geistige oder politische Größen der Vergangenheit wegen echter oder vermeintlicher charakterlicher Schwächen eliminiert werden. Hier spricht Pfaller deutliche Worte und schlägt sich klar auf die Seite der (freien) Wissenschaftler, die sich nicht vor identitären Protesten wegducken.
Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 208 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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