Ich traf Klaus-Dieter Weber in einer ReHa-Klinik. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir von den 12 Jahren, die er von 2009 bis 2021 als Missionsarzt in einer abgelegenen Klinik in West-Pakistan, nahe der afghanischen Grenze, verbracht hat. Er schenkte mir sein Buch „Weg da mit dem Kind“, in dem er seine Erfahrungen niedergeschrieben hat. Ich habe es gleich in der Nacht verschlungen. Ohne die persönliche Begegnung mit dem Autor wäre ich nie auf diesen Titel aufmerksam geworden.
Klaus Weber ist ein tief religiöser Mensch, der sich in allen existenziellen Situationen von der Hand Gottes geschützt fühlt und der hinter seinen großen, lebensverändernden Entscheidungen den Willen Gottes sieht. Diesen Ansatz muss ich als Leserin nicht teilen, aber ich spüre, dass hier ein Mensch ganz authentisch und uneitel erzählt.
Es beginnt mit seiner eigenen dramatischen Geburt als zunächst übersehener Zwilling im Jahre 1955. Als er endlich geholt wird, ist er schon blau angelaufen. Die Hebamme legt ihn dennoch der Mutter auf den Bauch. Der anwesende Arzt aber brüllt nur „Weg da mit dem Kind“, um der Mutter den Anblick zu ersparen, hatte sie doch nach einem ersten behinderten und dann verstorbenen Kind große Sorge, dass auch ihr zweites nicht gesund sein könnte. Dass es dann zwei gesunde Jungs wurden, versteht Weber noch heute als göttliche Gnade.
Auch im weiteren Verlauf seines Lebens sieht er den göttlichen Willen walten, etwa als er und sein Bruder gegen die Vorbehalte des Vaters auf das Gymnasium wechseln dürfen. Aus großer Dankbarkeit zu dem Team, das bei seiner Geburt sein Leben gerettet hat, wird er Arzt. Er arbeitet etwa zwanzig Jahre als Chirurg, um dann zusätzlich den Facharzt für Allgemeinmedizin zu machen und eine Praxis zu eröffnen, die sehr erfolgreich ist.
Mit Mitte 50 hat er bei einer von der Kirche organisierten Freizeit die lebensverändernde Begegnung mit einem pensionierten Pfarrer, der von dem Missionskrankenhaus in Pakistan berichtet. Weber ist sofort fasziniert und bietet an, dort einmal für zwei Wochen zu hospitieren, sofern das möglich ist.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Die Ärztin vor Ort stirbt überraschend. Aus Angst, weil man vermutet, sie könnte von den Taliban vergiftet worden sein, verlassen die anderen Ärzte das Krankenhaus. Da erhält Weber den Anruf von dem Pfarrer mit der Frage, ob er sich vorstellen könne, das Krankenhaus zu übernehmen.
Weber braucht drei Tage, um sich dafür zu entscheiden. Die nötige Vorbereitung kostet einige Zeit: Verkauf der Praxis, nochmalige chirurgische Praxiserfahrung in einer Klinik, Vorbereitungskurse auf das neue kulturelle Umfeld, in Pakistan dann Sprachkurse in Urdu, einer der Landessprachen, Vorbereitung auf die Situation in der Klinik.
Dann kommt der Sprung in die Praxis. Die Klinik liegt in einem militärischen Sperrgebiet. Ohne militärische Begleitung wird er das Klinikgelände nicht verlassen dürfen.
Was Weber menschlich und medizinisch vor Ort erlebt, liest sich auch für die Nicht-Medizinerin wie ein Krimi. Die technischen Bedingungen sind desolat. Ständig sind die Operationen durch plötzlichen Stromausfall bedroht, es fehlen Geräte, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Es gibt in Pakistan keine gesetzliche Krankenversicherung, sodass die medizinische Versorgung gerade für die armen Bevölkerungsgruppen kaum bezahlbar ist. Aber das Krankenhaus muss sich tragen und muss deshalb auch von diesen Patientengruppen ein Entgelt verlangen.
Weber sieht sich zunehmend mit notwendigen Eingriffen konfrontiert, die er noch nie gemacht hat. Die einzig mögliche Informationsquelle ist das Internet. Wenn es schnell gehen muss, ist das ein Risiko. Das größere Risiko ist jedoch, nichts zu tun, denn das würde den Tod der Patientin oder des Patienten bedeuten. Weber macht schließlich insgesamt ca. 2000 Kaiserschnitte, macht Unterleibs-Operationen bei Frauen, urologische Eingriffe bei Männern, rettet Kinder mit massiven Verbrennungen.
Weber arbeitet oft bis an den Rand der Erschöpfung. Er braucht alle paar Monate den visumstechnisch notwendigen Aufenthalt in Deutschland, um wieder aufzutanken.
Neben den Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung erhalten wir auch einen Einblick in das bürokratische, von Korruption geprägte Verwaltungssystem in Pakistan. So ist es ohne hohe Schmiergeldzahlung fast unmöglich, einen deutschen Besucher in die Klinik zu holen. Auch die eigentlich notwendige Bestätigung der deutschen Approbation durch die pakistanischen Behörden wird systematisch verhindert, so dass Weber schließlich wie alle ausländischen Ärzte vor ihm ohne diese Bestätigung arbeitet. Das geforderte „Lösegeld“ ist ihm und der Klinikleitung einfach zu hoch.
Das Ende seiner Tätigkeit kommt dann überstürzt. Er muss Pakistan Hals über Kopf verlassen, um nicht in die Fänge der Justiz zu geraten.
Weber erzählt so intensiv und sprachlich klar, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Besonders gefallen hat mir die Episode, als er aus der Sicht eines ungeborenen Zwillings – auch eines „übersehenen“ übrigens – den dramatischen Geburtsverlauf und schließlich notwendigen Kaiserschnitt erzählt. Es handelt sich um einen sogenannten „Vorfall“, d.h. dass der oben liegende Zwilling sich mit einem Körperteil vor den unteren Zwilling legt, so dass nichts mehr weitergehen kann. Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden.
Sehr hilfreich ist, dass Weber ein Glossar mit medizinischen Fachbegriffen und Erläuterungen zu pakistanischen kulturellen Bedingungen angefügt hat.
Insgesamt war das für mich eine sehr bewegende Lektüre. Ich habe mich erinnert gefühlt an das Buch „Das ferne Feuer“ von Amy Waldmann, das die katastrophale medizinische Versorgung der afghanischen Landbevölkerung schildert, und zwar noch vor der Übernahme durch die Taliban. Man mag sich nicht vorstellen, wie es dort jetzt aussieht.
„Weg da mit dem Kind“ ist im Daniel-Verlag erschienen. Es hat 160 Seiten und kostet 12,95 Euro.
Elke Trost
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