Die Französin Karine Tuil ist gestandene Juristin und kennt Verfahren und Interna der – französischen – Justiz aus langjähriger Erfahrung. Dieser Hintergrund, eine sehr pragmatische und kritische Sicht auf die Gegenwart sowie eine Selbstverpflichtung zur gründlichen Recherche prädestinieren sie für eine erfolgreiche Karriere im Genre des realistischen Gesellschaftsromans im weitesten Sinne.
Im vorliegenden Buch steht die Ich-Erzählerin Alma, eine Juristin von knapp fünfzig Jahren, im Mittelpunkt. Sie leitet als Ermittlungsrichterin in Paris ein Ermittlungsteam im Terrorismus-Umfeld.
Zu Beginn des Romans beschäftigt sich Alma mit der Einordnung und Behandlung eines jungen Muslims, der als IS-Sympathisant nach Syrien gegangen war, aber enttäuscht über die wahre Situation samt Frau und Kind reumütig nach Frankreich zurückgekehrt ist. Sie und ihr Team müssen nun entscheiden, ob seine Reue echt ist und man ihn wieder aufnimmt oder ob man ihn vorsichtshalber unter enge Aufsicht stellt. Die Meinungen in der Gruppe neigen eher zu letzterer Lösung, doch sie möchte jedem eine zweite Chance einer gelungenen Integration geben und schwankt noch.
Im Zuge ihrer Arbeit hat sie es natürlich auch mit den Anwälten der Gegenseite zu tun, hier vor allem mit dem sehr eloquenten, engagierten und – zugegeben – attraktiven Emmanuel, Sohn aus bestem juristischen Hause und in getrennten Verhältnissen lebend. Da auch sie – Mutter von drei mehr oder minder erwachsenen Kindern – in einer gerade scheiternden Ehe lebt, entwickeln die Dinge sich wie von selbst, obwohl sie die juristische Brisanz der Situation durchaus erkennt.
Die juristische Entscheidung über den jungen Muslim wird im Buch durch fiktive Protokolle der erfolgten Befragungen illustriert. Diese vermitteln auch kritischen Lesern ein positives Bild des jungen Mannes, wenn auch gerade wegen der überaus ehrlichen Reue ein Rest vom Misstrauen bleibt, da solch radikale Wandlung vom Saulus zum Paulus zumindest unwahrscheinlich ist. Die Befragungen und nicht zuletzt der juristische und private Druck des Liebhabers führen schließich zu Almas Entscheidung, den jungen Mann freizulassen.
Es kommt natürlich wie befürchtet. Noch am selben Abend veranstaltet der junge Muslim ein Massaker in einem angesagten Pariser Nachtclub, den genau an diesem Abend auch Almas Tochter samt arabischem(!) Verlobten besuchen wollte. Für Alma folgt die fürchterlichste Nacht ihres Lebens, zum Einen wegen ihrer offensichtlich falschen und für über ein Dutzend Menschen tödlichen Entscheidung, zum Anderen wegen der stundenlangen Unsicherheit über das Schicksal ihrer Tochter und des angehenden Schwiegersohns.
Das familiäre Ergebnis dieser Nacht ist dann teilweise tragisch und bildet nicht zuletzt den Anlass für Alma, ihren Dienst zu quittieren und sich im Stillen ein neues Leben aufzubauen. Die letzten Seiten sind dann zwar etwas von Lebensweisheit und Moral gesättigt, aber das fällt gegenüber der stringenten und konsequenten Machart dieses Romans nicht ins Gewicht. Karine Tuil beschränkt sich von Anfang an auf zwei Handlungsstränge, verknüpft diese bis zum Schluss glaubwürdig und nachvollziehbar und verzichtet auf jegliche publikumswirksame Effekte wie Sex oder Sentimentalität. Auch Paris spielt nur die Rolle des Handlungsortes und dient nicht touristischen Aufladung des Romans. Und obwohl es hier um ein islamistisches Attentat geht, verzichtet Tuil auf jegliche islamophoben Ausfälle. Nach den Attentaten von 2013 reicht es vollständig, den juristischen und kriminellen Ablauf zu schildern.
Man legt dieses Buch nicht vor der letzten Seite aus der Hand und hat bei der Lektüre nie das Gefühl, auch nur einen überflüssigen Satz gelesen zu haben.
Das Buch ist im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) erschienen, umfasst 350 Seiten und kostet 23 Euro.
Frank Raudszus
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