Käthe Kollwitz (1867 – 1945) hat posthum einen einzigartigen Rekord erzielt: wie Städel-Direktor Philipp Demandt in der Pressekonferenz fast ehrfürchtig berichtete, sind in Deutschland – unter anderen Nennungen! – 327 Straßen, 46 Schulen, 11 Plätze, 2 Siedlungen und 3 monographische Museen nach ihr benannt. Das lässt nicht nur auf ihre künstlerische Bedeutung schließen. sondern auch auf ihre sozialpolitische Eignung für eine unumstrittene Würdigung – ja: Verehrung – sowie auf die Verwendbarkeit ihres Namens für (partei)politische Zwecke (fast) aller Art. Das ist hier nicht als kritische Skepsis gemeint, sondern als Hinweis auf die künstlerische wie politische Unangreifbarkeit dieser Ausnahmekünstlerin. Direktor Demandt verwendete für ihre Kunst denn auch den schönen Begriff „offenes Deutungsinstrument“. Auf den politischen Rahmen verwies er noch einmal, wenn er betonte, dass Helmut Kohl im Jahr 1993 „eigenmächtig“ entschied, ihre Skulptur „Pietà“ an der neuen Wache in Berlin dauerhaft zu installieren.
Käthe Kollwitz ist bekannt für ihre fast schon anklagende Darstellung der proletarischen Unterschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das ist insofern erwähnenswert, als sie einem liberal-bürgerlichen Elternhaus entstammte, das ihr nicht nur das Studium der Kunst ermöglichte, sondern sie darin auch bestätigte und förderte. Sie verließ diese gesellschaftliche Schicht selbst nie, sondern heiratete einen Kassenarzt, in dessen Wartezimmern sie die elenden Gestalten der Arbeiterfamilien kennenlernte.
Die Kuratorin Dr. Regine Freyberger charakterisierte in ihrem Vortrag Käthe Kollwitz anhand des gar nicht freundliche gemeinten Satzes des Zeitgenossen und Kollegen George Grosz (1893 – 1959), sie sei säuerlich und ihre Kunst ein Edelballett erfundener armer Leute (sinngemäßes Zitat). Dr. Freyberger nahm diese vier Einschätzungen buchstäblich auseinander und drehte sie im Sinne der Künstlerin ins Positive: „säuerlich“ bedeute „unbequem“, und das sei sie in der Tat gewesen, weil sie einem saturierten Bürgertum unhaltbare Zustände vor Augen geführt habe; der Hinweis auf „arme Leute“ deute auf eine sozialkritische Haltung, die man heute guten Gewissens nicht mehr belächeln könne; „erfunden“ heiße nichts anderes als realitätsnah, wenn auch nicht unbedingt realistisch im Sinne belegbarer Tatsachen; und „Edelballett“ schließlich sei ein ungewolltes Kompliment für die ausdrucksintensive Körpersprache ihrer Figuren.
Käthe Kollwitz war auch als Malerin ausgebildet, doch entschied sie sich früh und konsequent für graphische Kunst in ihren verschiedenen Ausdrucksformen. Ein gemaltes Porträt einer jungen Frau beweist ihr Können auch auf diesen Gebiet, fand jedoch wohl genau aus diesem Grund den Weg in diese Ausstellung. Die graphischen Werke in ihren vielfältigen Ausprägungen nehmen den Rest der Ausstellungsfläche von zwei Stockwerken in Anspruch.
Die Ausstellung beginnt mit einer Reihe von Selbstporträts, die offensichtlich keine „selfie-haften“ Gelegenheitswerke sind, sondern das Innere der Künstlerin nach Außen kehren sollen. Man sieht diesen Gesichtern und Körperhaltungen Kollwitz´ Zweifel an sich und der Welt mehr als deutlich an, und spontan stellt sich die Erkenntnis ein, dass sie das auch beabsichtigt hat. Mit zunehmendem Alter zeigt sich auch das persönliche Leid in den Porträts. Im ersten Kriegsjahr, 1914, fiel ihr damals 18jähriger Sohn Peter als Soldat in Flandern, und sie hat diesen Verlust nie verwunden, sondern ihn immer wieder in Bildern – Mutter mit Kind – und Skulpturen verarbeitet.
Die Ausstellung präsentiert 110 Exponate, vornehmlich Graphiken aller Art, die zum großen Teil aus dem eigenen Bestand stammen. Dieser besteht im Wesentlichen aus der ehemaligen Sammlung des Frankfurter Unternehmers Helmut Goedeckemeyer (1898 – 1983), die das Städel im Jahr 1964 aufkaufte. Man kann Goedeckemeyer durchaus als ersten „musealen Verwalter“ der Kollwitz´schen Werke betrachten, denn die im Dritten Reich verfemte Künstlerin gewann auch nach dem Krieg – und ihrem Tod – nur langsam wieder Sichtbarkeit, und dann eher mit apologetischer Absicht denn aus ästhetischer Begeisterung. Für die überlebenden Mitläufer der Nazis und wiederauferstandenen Wirtschaftswundler wirkten ihre sozialkritischen Werke wie ein Anschlag auf ihr Gewissen. Erst langsam gewann sie als „unpolitische“ Humanistin die Bedeutung, die man ihr seit einigen Jahrzehnten zumisst.
Ihre in dieser Ausstellung gezeigten Werke lassen sich auch als sozialkritische Rückschau auf das halbe Jahrhundert zwischen 1890 und 1940 deuten, denn wie in einem Brennspiegel bündeln sich hier alle die geopolitischen und gesellschaftlichen Krisen des frühen 20. Jahrhunderts. Das Städel-Museum hat mit dieser Ausstellung frühzeitig einen Trend entdeckt – oder erzeugt? -, denn in Kürze wird das MOMA in New York ebenfalls eine Kollwitz-Ausstellung zeigen. Erstaunlich, das eine so „urdeutsche“ Künstlerin jetzt ihre globale Wiederauferstehung erlebt. Und das Städel-Museum geht voran!
Die Ausstellung ist bis zum 9. Juni 2024 geöffnet. Details sind der Webseite des Städels zu entnehmen.
Frank Raudszus
No comments yet.