Der Titel „Pirsch“ des Einakters von Ivana Sokola ist so lakonisch knapp wie treffend. Denn hier geht es um die Jagd nach einem Mann, dessen sexuellen Übergriff auf einem Volksfest vor fünfzehn Jahren Marinka (Edda Wiersch) nicht vergessen kann. Daher begibt sie sich in ihrem alten Heimatort auf die Jagd nach dem unbekannten Übeltäter, von dem sie nur seine Ausdünstungen in Erinnerung behalten hat. Ihrem Bruder Jan (Aaron Eichhorn) versucht sie vergeblich ihr tief sitzendes Trauma nahe zu bringen, doch dieser verweist auf die lange Zeit, auf die fehlenden Beweise sowie auf die Änderungen und Läuterungen, die auch Männer im Lauf ihrer Adoleszenz durchlaufen. Beim Zuschauer verfehlen seine vernünftigen Argumente gerade im Gegensatz zu Marinkas insistierenden, sich wiederholenden Rachegefühlen anfangs nicht ihre Wirkung, zumal Marinka stets nur von einem „Kuss“ hinter den Jahrmarktsständen spricht.
Wenn dann auch noch die etwa gleichaltrige Lene (Annbritt Faubel) auftritt, ihres Zeichens Polizistin, dann verstärkt sich diese Tendenz noch, denn Lene ist gebunden an die rechtsstaatlichen Denkstrukturen ihres Berufs. Da gibt es keine Selbstjustiz oder gar Rache, da müssen klare Beweise her. Doch trotz ihrer Bedenken verweist sie auf vier Hunde, die man für jede Jagd heranziehen könne, die nicht nach Beweisen fragten und sich allein der tödlichen Jagd – oder auch „Hatz“ – widmeten.
Das ist die Konstellation für die etwa einstündige Aufführung, die jedoch nicht als realistische Kriminalhandlung inszeniert ist, sondern eher als metaphorisches Stück. Bereits die Sprache weist in diese Richtung. Die Texte weisen durchgängig eine metrische Struktur auf, und es fehlen am Ende nur die Reime, um sie in die klassische Theaterliteratur einzuordnen. Doch hier erhält die Handlung durch die metaphorischen Elemente – „KUSS“ – eine metaphysische Aura, die den Übergriff eines einzelnen Mannes auf eine einzelne Frau zu einem existenziellen Konflikt ähnlich der griechischen Tragödie werden lässt. Ein wenig erinnert die Konstellation an Richard Strauss´ Oper „Elektra„, die derzeit ebenfalls in Darmstadt läuft. Marinka gleicht dann Elektra und Lene ihrer Schwester Chrysothemis. Die Hunde spielen dabei einerseits die Rolle des Chores, andererseits bieten sie mit ihrer Jagdlüsternheit eine ideale Anbindung an heutige „social media“. Gleichzeitig erinnern die tendenziell überhöhte Sprache und das grundlegende „aneinander vorbei Reden“ der Akteure an Franz Kafka. Die Figuren sind in ihren seelischen Strukturen gefangen und können nicht wirklich kommunizieren. Daher treten die Darsteller für zentrale Texte auch auf eine kleine Pseudo-Rampe vor den Zuschauerreihen und sprechen an eine Instanz oberhalb des Publikums.
Maria Preschel hat den alten Marstall des Jagdschlosses Kranichstein – man beachte die Assoziation! – mit Versatzstücken eines Volksfestes ausgestattet: Autoscooter, Karussellpferd, „hau den Lukas“ und Eingang zu einer Geisterbahn. In diesem Ambiente agiert das Ensemble, wobei Ida Horst, Shawnté Danisha Schlüter, Johannes Sieb und Jakob Walter als Hunderotte in ihren schwarzen Kostümen und mit ihren gelben Kontaktlinsen tatsächlich wie hechelnde Dobermänner umherspringen und auf eine Gelegenheit zum Angriff lauern. Marinka ist hin und her gerissen zwischen dem Racheversprechen der Hunde – „wenn wir alle erledigen, treffen wir den Schuldigen auch“ – und Lenes Ermahnungen, statt der „Hatz“ auf eine geduldige „Pirsch“ zu setzen.
Am Ende ergibt sich dann eine unerwartete Pointe, die wir hier nicht verraten wollen, die aber dem Stück einen in jeder Hinsicht treffenden, wenn auch etwas pessimistischen Schluss verleiht. Dafür musste man die von Lene empfohlene „Pirsch“ nicht praktisch vorführen, sondern lediglich als Alternative zur rasenden Rache ausweisen. In diesem Stück geht es nicht darum, wie man sexuelle Übergriffe praktisch sühnt, sondern letztlich um das Verhältnis der Geschlechter zueinander und die Wirkung der Sexualität im allgemeinsten Sinne auf dieses Verhältnis. Dabei spielt nicht nur das Traumatische von Übergriffen eine Rolle, sondern vor allem die elementare Sehnsucht, diese Verletzung des Allerpersönlichsten zu sühnen, wie immer das auch möglich sein mag. Die bloße Rache, hier am Beispiel der Hunderotte vorgeführt, kann es nicht sein, aber die Marginalisierung seitens der Verursacher oder die rechtliche Einhegung seitens der Institutionen auch nicht. Das Stück bietet zwar am Schluss eine Entlarvung, diese löst aber das Problem nicht. In diesem Sinne bleibt am Ende alles offen wie bei Franz Kafka.
Das Ensemble füllt diese Parabel durch engagiertes Spiel mit Leben. Allen voran Edda Wiersch zieht alle Register der seelischen Nöte eines im Inneren getroffenen Menschen, der auf Wiedergutmachung sinnt, während Annbritt Faubel und Aaron Eichhorn rollenbedingt eher für die etwas leiseren Register zuständig sind, ihre Rollen aber auch gut ausfüllen. Die vier „Hunde“ haben natürlich ausgesprochen dankbare Rollen, da sie heiser hechelnd und mit lauernden Augen durch die Kulissen springen und das Urbild der zum Angriff ansetzenden Kreatur wiedergeben können.
Kräftiger Beifall im ausverkauften Marstall des Jagdschlosses.
Frank Raudszus
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