Bei diesem Buch ist der Rezensent in gewisser Weise einer Fehleinschätzung erlegen. In der Annahme, dieses explizit als Tagebuch charakterisierte Werk könne man diagonal lesen, hier und da reinschauen und es dann weglegen, hatte er sich girrt. Ob das auf das Buch oder eine falsche Selbsteinschätzung zurückzuführen ist, bleibt dabei offen.
Sloterdijk, einer der bekanntesten deutschen Intellektuellen des letzten halben Jahrhunderts, hat seinen -teilweise umstrittenen – Ruf im Wesentlichen durch seine (gesellschafts)politische Unabhängigkeit erworben. Er gehört keiner so genannten philosophischen Schule an und ist als ehemaliger aber abtrünniger Linker wie alle Renegaten dort nicht gerade beliebt.
Seine neuesten Tagebücher, die unter dem Titel „Zeilen und Tage III“, erschienen sind, decken den Zeitraum von 2023 bis 2016 ab und liefern fast täglich einen Eintrag. Darunter sind kurze private Anmerkungen, aus Gründen der Diskretion der Diskretion mit weitgehender Beschränkung auf Vornamen und sparsamen Inhalten. Doch Leser mit kriminalistischem Gespür und – zugegebenermaßen – einem gewissen Voyeurismus können aus diesen kargen Notizen durchaus einige Rückschlüsse auf Sloterdijks Privatleben ziehen – wenn sie es denn wollen.
Die Berichte von Vortragsreisen bilden einen bedeutenden Teil der Einträge, was angesichts des Bekanntheitsgrads des Autors nicht verwundert. Dabei erfährt man nicht nur einiges über die jeweiligen Themen, sondern auch über die jeweiligen Institutionen, deren leitendes Personal und nicht zuletzt über die teilweise fehlende Großzügigkeit der Einladenden – Stichwort „Hotelqualität“. Sozusagen als Beifang ergeben sich daraus auch Kommentare und Rezensionen über Sloterdijks in dieser Zeit erschienenen Bücher, etwa „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ oder das damals noch in Entstehung befindliche „Schelling-Projekt„.
Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt liegt in den Kommentaren des Autors zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die er aufmerksam verfolgt. Dabei lässt er seiner Meinung freien Lauf, ohne jedoch in billige Polemik zu verfallen. Sein pointierter Stil kann jedoch allein schon wie eine Speerspitze wirken, so wenn er sich über Angela Merkels Politik gegenüber Russland oder der Flüchtlingswelle auslässt. In diesem Zusammenhang bekundet er auch seine Verwunderung darüber, dass gewisse, nicht nur journalistische Kreise es anrüchig finden, wenn ein Mann wie Sloterdijk seine politische Meinung kundgibt, als seien alle intellektuellen Beamten, sprich: Professoren, gehalten, auf eine eigene Meinung zu verzichten oder die gerade gültige Mainstream-Meinung zu vertreten.
Diese Mischung aus verschiedenen Ebenen sorgt im Zusammenhang mit der nahezu täglichen Fortschreibung dafür, dass sich das Buch wie ein Krimi liest. Der als blätternder Diagonalleser angetretene Rezensent konnte das Buch kaum aus der Hand legen, weil jede Seite neue Ideen, Kommentare und Kritiken zu den oben genannten Lebensbereichen enthält und damit gleichzeitig ein Panorama der jüngsten – vor allem deutschen – Geschichte entsteht. Erst kurz vor Schluss entschied sich der Rezensent, auf die letzten fünfzig Seiten zu verzichten, da der Gesamteindruck bis dorthin bereits umfassend war und ein Fazit oder eine Erkenntnis im Sinne eines thematisch kohärenten Sachbuchs nicht zu erwarten war.
Wer einen direkten Einblick in Wirken und Denken eines führenden Intellektuellen erhalten will, der ist mit diesem Buch gut beraten. Es ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 598 Seiten und kostet 34 Euro.
Frank Raudszus
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